400 Kilometer über unseren Köpfen jagten Tom und Jerry einander jahrelang hinterher. Der eine stetig vorne, der andere in einmal größerem, einmal kleinerem Abstand stetig dahinter. „Wir haben die zwei Satelliten nach den Comic-Figuren benannt, die sich auch ständig verfolgen, ohne sich jemals zu fangen“, sagt Torsten Mayer-Gürr lächelnd. Er sitzt in seinem ordentlich zusammengeräumten Büro in der Steyrergasse – am Kasten hinter ihm wartet ein Poster mit zwei kühlschrankförmigen Satelliten und dem Schriftzug „Tom &Jerry“ darauf, an die Wand gehängt zu werden. Die robusten Flugobjekte auf dem Bild sind die Messgeräte des Forschers. Oder besser gesagt: Sie waren die Messgeräte des Forschers in den vergangenen 15 Jahren. Vor einigen Jahren verglühten sie nach dem Ende ihrer Mission beim Eintritt in die Erdatmosphäre. Bis dahin hatten die beiden Erdumkreiser aber wertvolle Daten gesammelt, die unter anderem wichtige Aufschlüsse über den Klimawandel geben.
Tom und Jerry jagten sich 15 Jahre lang rund um die Erde.
Das dynamische System „Erde“
„Mit unseren Auswertungen kann man das dynamische System Erde besser verstehen“, erklärt Mayer-Gürr. Er ist Forscher am Institut für Geodäsie der TU Graz und leitet die Arbeitsgruppe Theoretische Geodäsie und Satellitengeodäsie. Sein Spezialgebiet ist die Satellitengeodäsie – er vermisst mit seinem Team die Erde vom Weltall aus und kann detailliert darstellen, wie viel Masse sich an welchem Ende unserer Welt befindet. „So können wir zum Beispiel die Veränderungen der Eismassen in Grönland kartographieren oder die Regenzeiten im Amazonas darstellen.“ Aber auch Überflutungswahrscheinlichkeiten für bestimmte Regionen berechnen.
Satelliten, die um unsere Erde kreisen, haben theoretisch eine elliptische Umlaufbahn: Wäre unsere Erde glatt wie eine Bowlingkugel, dann würden sie ebenfalls auf einer glatten Bahn fliegen. So ist die Oberfläche unserer Erde aber nicht beschaffen. Es gibt Berge, Meere und Kontinente – also an manchen Stellen mehr und an manchen weniger Masse. Masse wirkt sich auf die Gravitation aus – an Stellen, an denen sich mehr Masse befindet, werden die Satelliten stärker angezogen: Fliegt ein Satellit über einen Berg, wird er stärker von der Erde angezogen, als wenn er über einen Meeresgraben fliegt. „Diese Unterschiede sind minimal“, erklärt Mayer-Gürr. „Aber wir können sie messen und daraus ein sehr genaues Abbild unserer Erde berechnen. Wir können für unsere Berechnungen jeden Satelliten nutzen, der in einer niedrigen Bahn fliegt und einen GPS-Empfänger in sich trägt.“
Mission GRACE
Die beiden liebevoll Tom und Jerry genannten Satelliten wurden für die internationale Mission GRACE (Gravity Recovery and Climate Experiment) in ihre niedrige Umlaufbahn von knapp 400 Kilometern Höhe geschickt und lieferten den Grazer Forschenden 15 Jahre lang exakte Daten über die Beschaffenheit der Erde. Jeden Monat erstellten sie ein genaues Bild davon, wie sich die Massen auf der Erdoberfläche gerade zeigten. „Wenn man diese einzelnen Bilder nebeneinander stellt, bekommt man ein sehr klares Bild von den Veränderungen, die auf unserer Erde passieren“, weiß Mayer-Gürr. Zum Beispiel, dass jährlich alleine in Grönland rund 250 Gigatonnen Eismasse verloren gehen – das sind 250 Eiswürfel mit einer Seitenlänge je einem Kilometer.
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Die Forschenden können zeigen, wie sich die Wassermassen aus unserer Erde im Laufe des Jahres ändern.
Mit den Daten beobachten die Forschenden aber auch das Wetter im Jahreslauf und analysieren etwa Regen- und Trockenzeiten im Amazonas. Und sie können das Risiko für Überschwemmungen vorhersagen: „Wir messen auch die Menge an Wasser, die der Boden nach Regenschauern aufgenommen hat. Ist der Boden bereits gesättigt, dann ist das Risiko sehr hoch, dass es bei neuen Regenfällen zu Überschwemmungen kommen wird.“ Derzeit ruhen diese Vorhersagen wegen des Auslaufens der GRACE-Mission. Aber seit zwei Jahren wird bereits an dem Nachfolgeprojekt gearbeitet und mit Anfang 2020 sollen die neuen Satelliten den Datenfluss Richtung Erde wieder fließen lassen. „Wenn wir zum Beispiel heute die Daten geschickt bekommen, dann können wir morgen Abend Aussagen über mögliche Überschwemmungen machen.“
Im Frühjahr erregte die Arbeitsgruppe mit der genauesten Schwerefeldmessung der Erde für Aufsehen. Nachlesen in den TU Graz news unter "Schwerefeldbestimmung der Erde so genau wie nie".
Ein ganzer Haufen Zahlen
Alles beginnt am Institut mit „einem ganzen Haufen Zahlen“ – also Millionen von Positionsdaten der Satelliten. Jene der GRACE-Mission beispielsweise maßen alle zehn Sekunden ihre eigene Position und den Abstand, den sie aktuell zueinander einnahmen. Daraus ergibt sich ein Gleichungssystem von 250 Terabyte, das von einem eigenen Rechner mit rund 200 Prozessorkernen und „ganz viel Arbeitsspeicher“ gelöst wird. Das Kapital des Instituts ist die Qualität seiner Daten.
Oft müssen die Forschenden ihre Datenauswertungen detektivisch unter die Lupe nehmen, um diese Qualität sicherzustellen. „In den GRACE-Daten kam es zu seltsamen und uns unerklärlichen Ausreißern“, berichtet Mayer-Gürr. „Nach einiger Zeit fanden wir heraus, dass die Sonne in einem bestimmten Winkel die Kamera des Satelliten, die er für die Beobachtung von Sternen an Bord hatte, dermaßen störte, dass der Prozessor überlastete und die Messungen verrücktspielten. Änderte sich der Stand der Sonne, waren auch die Daten wieder in Ordnung.“ Und auch der rasche Übergang von Sonnenlicht auf Schatten machte den Sensoren zu schaffen: „Die Temperatur, der die Satelliten ausgesetzt waren, stieg oder fiel rasch um rund 100 Grad und es kam wieder zu Abweichungen.“ Um solche Probleme zu erkennen, braucht es ein großes Maß an Kreativität – und Darstellungsoptionen. „Wenn man die Daten vernünftig darstellt, sieht man Muster und kann erkennen, wo das Problem liegt.“
Forschung, die über die Grenzen der Wissenschaft hinausgeht
Am Institut für Geodäsie bereiten Forschende die Daten auf und stellen sie Wissenschafterinnen und Wissenschaftern anderer Disziplinen offen zur Verfügung: Glaziologen, die Eismassen erforschen, Ozeanografen, die die Meeressiegel beobachten, Hydrologen, die Überschwemmungswarnungen herausgeben, oder auch Geologen, die sich für die Bewegung von Gesteinsmassen interessieren.
Aber reizt Mayer-Gürr nicht auch der Blick ins Weltall, wenn er schon mit Satelliten arbeitet? „Tatsächlich haben wir schon das Schwerefeld des Mondes vermessen – einfach weil wir es konnten“, schmunzelt der Forscher. „Aber mich hat immer schon die Erde sehr viel mehr interessiert.“
Dieses Forschungsprojekt ist im Field of Expertise „Sustainable Systems“ verankert, einem von fünf strategischen Schwerpunktfeldern der TU Graz.
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