Ein Knäuel Wolle. So sieht das chaotische Gebilde am Computerbildschirm von Tobias Schreck, Professor am Institut für Computer Graphik und Wissensvisualisierung der TU Graz, aus. Ein zweifarbiger Knäuel Wolle, um genau zu sein. Einfach ist es nicht, sich vorzustellen, dass aus diesem unübersichtlichen Bild Taktik, Spielzüge und Leistung einzelner Fußballspielerinnen und -spieler abgelesen werden können. Geht aber. Wenn sich Tobias Schreck, sein Team an der TU Graz und seine Kooperationspartner/innen an der Universität Konstanz einmal der Daten angenommen haben, wird alles sehr viel einfacher für das Verständnis von komplexen Zusammenhängen in großen Bewegungsdatenmengen.
Beim sogenannten Overplotting überlagern sich alle Bewegungsdaten aus 90 Minuten Spielzeit.
Overplotting, oder: Was soll mir das denn bitte sagen?
„Was hier zu sehen ist, ist das sogenannte Overplotting. So sieht es aus, wenn sich alle Bewegungsdaten von 22 Personen über 90 Minuten Spielzeit vollständig überlagern. Da ist natürlich keine sinnvolle Analyse möglich“, erklärt der gebürtige Deutsche in seinem Büro in der Grazer Inffeldgasse 16. Um den bunten Knäuel zu entwirren, setzt das Team verschiedenste Ansätze der analytischen Visualisierung und Abstraktion ein. Will heißen: Mit unterschiedlichsten Verfahren werden einzelne Bewegungen aus dem Spiel herausgefiltert, nach bestimmten Spielsituationen gesucht, Freiräume angezeigt und ähnliche Bewegungsmuster geclustert. So lassen sich zum Beispiel Aussagen über den Grundtenor eines Spieles treffen – etwa ob die Mannschaft sehr defensiv eingestellt war oder doch mehr in die Offensive gegangen ist, welche Spielzüge am häufigsten eingesetzt wurden, wo sich die Spielerinnen und Spieler die meiste Zeit aufgehalten haben oder wie sehr sie unter Bedrängnis geraten sind.
Im Video „Dynamic Visual Abstraction of Soccer Movement“ können Sie sehen, wie das Visusalisierungssystem live funktioniert.
Die Kamera wird zum Bewegungstracker
Bevor diese Aussagen aber getroffen werden können, müssen zuallererst die Bewegungsdaten gesammelt werden. „Bisher haben wir vor allem mit fertigen Datensätzen gearbeitet. Wegen des hohen Professionalisierungsgrades ist im Fußball schon sehr viel vorhanden. Alle großen Vereine arbeiten mit Videoanalystinnen und -analysten, auf deren Arbeit wir aufbauen konnten“, erzählt Tobias Schreck.
Einige Büros weiter arbeitet Horst Possegger, Doktorand am Institut für Maschinelles Sehen und Darstellen. Er ist auf das Tracking von bewegten Personen in Videoaufnahmen spezialisiert und war bis 2013 am Projekt MASA beteiligt, in dem Bewegungsdaten aus der Aufnahme eines Handballspieles generiert wurden. „Diese Technik ließe sich ganz einfach auch im Fußball anwenden“, erklärt er. „Wir arbeiten dabei mit mehreren Kameras, um auch bei Verdeckungen – also wenn sich zwei Personen gegenseitig abdecken – die richtige Position zu finden. Das System nutzt dazu die 3D-Struktur der Szene, die mit Hilfe mehrerer Kameras in Echtzeit rekonstruiert wird.“ Für jede Person am Spielfeld wird dann ein eigenes Farbschema berechnet, mit dem sie sich weiterverfolgen lässt. Das Problem der hohen Personenanzahl auf einem kleinen Raum konnte mit einem Partikelfilter in Kombination mit einer Voronoi-Partitionierung gelöst werden. Die Partikel „kleben“ an einer Person und können sich nur innerhalb eines bestimmten Rahmens bewegen. Durch die so festgelegten Grenzen lassen sich die Identitäten auch genau festlegen, wenn sich zwei Personen – wie in Angriffs- und Verteidigungssituationen üblich – sehr nahe kommen.
Video: So funktioniert das an der TU Graz entwickelte Tracking im Handball.
Heute arbeitet der junge Forscher an einem sehr ähnlichen Tracking-Ansatz, aber einer sehr viel langsameren Sportart: dem Zu-Fuß-Gehen. Am Institut setzt man derzeit ein automatisches Ampelschaltsystem um, bei dem die Drucktaster an Fußgängerampeln durch eine Kamera mit Bewegungsdetektor und ein ausgeklügeltes System zur Vorhersage der Bewegungsrichtung ersetzt werden soll. „Die von uns entwickelte Ampelschaltung reagiert nur, wenn eine Person auch wirklich die Kreuzung überqueren will, und berücksichtigt auch, wie viele Personen sich über den Zebrastreifen bewegen. Wenn mehrere Personen über eine Straße gehen, dann wird auch die Grünphase automatisch verlängert“, erzählt Possegger. In einer Machbarkeitsstudie konnte bereits nachgewiesen werden, dass das an der TU Graz entwickelte System funktioniert: In 99,5 Prozent der Fälle wurde die Ampelschaltung richtig ausgelöst. „Derzeit sind wir in Gesprächen mit Industriepartnern und wollen das System in den nächsten Jahren real umsetzen.“
Auch unter widrigen Lichtverhältnissen funktioniert das Trackingsystem fehlerlos. Die Rechtecke zeigen an, wo sich eine Person befindet, die Pfeile die berechnete Bewegungsrichtung und die Farbgebung, ob eine Person einen Kreuzungswunsch hat oder nicht. Wie das Tracking funktioniert ist im Video „Occlusion Geodesics for Online Multi-Object Tracking“ live zu sehen.
Eine Suchmaschine für Bewegungen
Aber zurück zum Sport mit sehr viel mehr Tempo: dem Fußball. Sind die Daten gesammelt, wandeln sie Tobias Schreck und sein Team in sinnvolle Analysen und Visualisierungen um. Jedes ihrer Systeme ist interaktiv und kann individuell auf die jeweilige Fragestellungen der Nutzenden angepasst werden. Wie zum Beispiel die Suchmaschine für Bewegungen, die 90 Minuten Spielzeit nach bestimmten, vom Nutzenden skizzierten Bewegungsmustern durchsucht. Per Mausklicks kann die gewünschte Bewegung auf einem schematisch dargestellten Fußballfeld skizziert werden – zum Beispiel Spieler 1 läuft von Position A nach Position B, oder Spieler 1 fängt Spieler 2 auf seinem Weg von Position A nach Position B ab. „So kann man zum Beispiel herausfinden, welche Spielerinnen oder Spieler welche Spielzüge durchgeführt haben und wie erfolgreich sie dabei waren. Man kann aber auch zum Beispiel sehen, welche Abwehrspieler besonders offensiv spielen können, indem man den Startpunkt der Bewegung vor dem eigenen Tor definiert und den Endpunkt vor dem gegnerischen Tor. Und noch vieles mehr“, ist Schreck von den vielen Möglichkeiten überzeugt.
Das System durchsucht automatisch 90 Minuten Spielzeit nach bestimmten Bewegungsabläufen. In diesem Beispiel wurde der Startpunkt im oberen Bereich des Spielfeldbildes kurz vor der Mittellinie und der Endpunkt zwischen Ecke und Strafraumgrenze definiert. Im unteren Fenster werden nun alle Szenen bzw. alle Spieler (im Bild anonymisiert) aufgelistet, die während der Spielzeit diesen Laufweg gemacht haben.
Ein zweiter Bereich ist die Analyse von Freiräumen. Dabei wird auf Basis sportwissenschaftlicher Modelle automatisch der Platz berechnet, den eine bestimmte Spielerin oder ein bestimmter Spieler beim derzeitigen Tempo und in der aktuellen Laufrichtung abdecken kann und der jeweilige Raum direkt ins Videobild übertragen. „So kann man Platzbesitz analysieren oder auch Passalternativen aufzeigen“, erklärt Schreck.
Freiraumanalyse: Das System berechnet automatisch, welchen Raum eine bestimmte Spielerin oder ein bestimmter Spieler abdecken kann.
Und in einem dritten Forschungsbereich beziehen die Forschenden die Zukunft und Vergangenheit mit in die Analyse ein. „Wir können zusätzlich zur gerade gezeigten Situation den Laufweg einige Sekunden vorher und einige Sekunden nachher einblenden. So lassen sich Bewegungsabfolgen und Laufwege einfach nachvollziehbar machen“, erklärt Schreck.
Vom Wollknäuel zur sinnvollen Analyse über 90 Minuten
Will man sich nun den Tenor der gesamten Spielzeit von 90 Minuten ansehen, dann ist Abstraktion gefragt. Mittels Clusteranalysen lassen sich 90 Minuten unterschiedlichster Laufwege zu mehreren Hauptbewegungsarten zusammenfassen und so die jeweilige Taktik, Strategie und tatsächlich umgesetzte Spielzüge darstellen. „Eine wichtige Frage dabei ist: Was ist Ähnlichkeit?“, erklärt Schreck. „Bei den Clusteranalysen werden ähnliche Bewegungsabläufe zusammengefasst. Aber was ist überhaupt ähnlich? Ist es ähnlich, wenn ein Spielender Zick-Zack in eine bestimmte Richtung läuft und ein anderer in einer geraden Linie, aber beide vom gleichen Punkt starten und am gleichen Punkt ankommen? Oder ist es ähnlicher, wenn zwei Personen von unterschiedlichen Punkten starten, an unterschiedlichen Punkten ankommen, aber beide in einer geraden Linie gelaufen sind? Und die Antwort ist: beides. Denn es kommt immer auf die Fragestellung an, mit der ich die Analyse beginne. Deshalb können unsere Systeme immer individuell durch Interaktionstechniken an die Fragestellung angepasst werden.“
Der Blick in die Zukunft
In Zukunft will man noch einen Schritt weitergehen und die Analysen um Vitalwerte der Sportlerinnen und Sportler erweitern. „Wir möchten dazu mit Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten, die Sportshirts mit ausgeklügelter Sensorik entwickelt haben und dazu verwenden, um Pulsschlag, Stresslevel und Ähnliches zu tracken“, erklärt Schreck. „Wenn wir diese Daten mit unseren Analysen verbinden, dann könnten wir zum Beispiel Aussagen darüber treffen, warum eine Spielerin oder ein Spieler etwa ein Tor nicht geschossen hat. Ihr oder ihm könnte aber auch schlicht die Kraft ausgegangen sein, oder der Stresslevel könnte zu hoch sein oder Ähnliches.“Darüber hinaus möchte man das Visualisierungssystem so weit entwickeln, dass es die Berechnungen in Echtzeit erledigen kann und die zusätzlichen Daten zum Beispiel über dem Live-Bild einer Spielübertragung eingeblendet werden könnten. Und Tobias Schreck träumt von massiv erweiterten Datensätzen: „Es wäre ein Traum, wenn wir zum Beispiel Bewegungsdaten von allen Spielen einer Saison analysieren und miteinander vergleichbar machen könnten.“
Die Forschung in Graz und Konstanz ist im Grundlagenbereich angesiedelt, aber Big Data wird auch im Fußball zu einem immer wichtigeren Feld und von Seiten der großen Clubs herrscht reges Interesse an neuen Auswertungstechnologien: „Wir sind immer wieder im Gespräch mit Spielanalysten und Trainern, zum Beispiel einem ehemaligen Jugendtrainer von Bayern München. Dieser hat uns innerhalb einer qualitativen Evaluierung bestätigt, wie wichtig das Thema Videoanalyse bereits ist und in Zukunft noch sein wird.“
Dieses Forschungsgebiet ist im FoE „Information, Communication & Computing“ verankert, einem der fünf Stärkefelder der TU Graz.
Mehr Forschungsnews aus diesen Bereichen finden Sie auf Planet research.