„Als Frau musst du immer bei null anfangen“, betonte Herta Frauneder-Rottleuthner, eine der Pionierinnen, die sich im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts ein Studium an der damaligen Technischen Hochschule (TH) Graz – heute TU Graz – zutrauten. Wie andere mutige Geschlechtsgenossinnen nutzte sie die Gesetzeslage, die Frauen seit 7. April 1919 erlaubte, auch an Technischen Hochschulen zu inskribieren ¬– sofern sie Männern den Platz nicht wegnahmen und das Inventar nicht beschädigten. Basis dafür war der Erlass des sozialdemokratischen Staatssekretärs für Unterricht Otto Glöckel.
Dem Themenschwerpunkt „100 Jahre Frauenstudium an der TU Graz“ widmet sich die erste Ausgabe 2019 der Zeitung für TU Graz-Angehörige „TU Graz people“.
Bereits im Jahr 1916 hatte es eine Umfrage des Ministeriums für Cultus und Unterricht gegeben, wie die Zukunft der Hochschulen aussehen solle. 75 Prozent des Grazer Professorenkollegiums befürworteten das Studium für Frauen an der TH Graz. Das war in der österreichischen Reichshälfte, bei immerhin sieben infrage kommenden Hochschulen, einzigartig. Speziell an der „Chemisch-Technischen Schule“ und an der Schule für Architektur der TH Graz gab es in den 1920er-Jahren durchaus aufgeschlossene Professoren, die für die damalige Zeit sehr modern dachten, insbesondere die Architekten Friedrich Zotter und Karl Hoffmann sowie Friedrich Emich in der Chemie. In diesen Fachbereichen studierten dann auch die ersten Frauen – Frauen wie Herta Frauneder-Rottleuthner, die sich ihrer speziellen Situation sehr bewusst waren. Frauneder-Rottleuthner, die ihr Studium als erste Architektur-Absolventin im Jahr 1935 abschloss, stellte fest, dass sie es als Frau und Architektin schwer hatte „weil du jeden Tag die Beste sein musst.“
Martha Spiera – die erste Absolventin
Die allererste Absolventin der TH Graz studierte allerdings nicht Architektur, sondern Chemie. Es war Martha Spiera, die ebenso wie Barbara Gyöngyössy 1919 zum Chemiestudium zugelassen worden war. Die beiden waren die ersten ordentlichen Hörerinnen an der TH Graz. Spiera schloss ihr Studium 1923 ab – mit sehr gutem Erfolg – Gyöngyössy etwas später im selben Jahr. Damit gehörten beide zu den rund 70 Frauen, die im Zeitraum von 1919 bis 1950 ihr Studium beendeten. Es handelte sich dabei um eine Minderheit, denn 80 bis 90 Prozent der Studentinnen dieser Zeit verließen die Technische Hochschule Graz ohne Abschluss.
Die Drop-out-Quote von Studentinnen an der TH Graz war in den 20er und 30er Jahren extrem hoch. Nur ein bis zwei Frauen pro Jahrgang schlossen ihr Studium ab. Zwischen 1919 und 1950 beendeten rund 70 Frauen ihr Studium. Bis 1960 blieben die jährlichen Absolventinnenzahlen im einstelligen Bereich, zwischen 1960 und 1980 schlossen durchschnittlich 10 bis 15 Frauen ein technisches Hochschulstudium ab, von 1980 bis in die 2000er-Jahre stieg dann die Zahl der Absolventinnen pro Jahr relativ kontinuierlich auf 100 bis 150 an.
Die ersten Studentinnen entstammten dem akademischen, großbürgerlichen Milieu, waren Töchter von Hochschulprofessoren oder Töchter von Unternehmern, die aufgrund fehlender männlicher Nachkommen für die Übernahme des väterlichen Betriebes vorgesehen waren. Auch Martha Spiera passt in dieses Schema. Sie wurde am 4. August 1897 in Wien als Tochter eines Kaufmanns geboren und übersiedelte mit ihrer Familie nach Budapest, wo sie von 1916 bis 1919 bereits Chemie studierte. Nach dem Ersten Weltkrieg nach Graz übersiedelt, nahm sie nach Anrechnung ihrer Vorstudien im Jahr 1920 das Studium der Chemie an der Technischen Hochschule in Graz auf und beendete es – wie schon erwähnt – äußerst erfolgreich.
Ausschnitt aus dem Matrikel von Martha Spiera.
Ihr weiterer Lebensweg ist nur bruchstückhaft bekannt. In den Jahren 1932 bis 1936 arbeitete Spiera als Chemikerin am Dermatologischen Institut der Budapester Péter-Pázmány-Universität (heute Semmelweis- Universität Budapest) und verfasste gemeinsam mit Joszéf Erdös ein Standardwerk über Klinische Chemie in ungarischer Sprache, das 1939 in Budapest erschien. Danach verlieren sich ihre Spuren endgültig.
Lorle Herdey – die erste Lehrende und Assistentin
Mehr als zwanzig Jahre, nachdem Spiera als erste Frau ihr Studium abgeschlossen hatte, im Studienjahr 1945/46, war die Zeit an der TH Graz reif für die erste Lehrende. Sie hieß Lorle Herdey, wurde unter dem Namen Eleonore von Savageri als Tochter des Privatiers Dr. Bruno von Savageri am 28. Oktober 1923 in Graz geboren und fand ihre Berufung in der Architektur. Ihr Studium schloss sie am 15. April 1945 an der hiesigen Technischen Hochschule ab. Schon zuvor, im Jahr 1944, war sie als wissenschaftliche Hilfskraft eingesetzt worden. Damit war sie eine von mehreren Frauen, die ab 1942 kriegsbedingt als wissenschaftliche Hilfskraft beziehungsweise als Kriegsvertreterinnen für eingerückte Assistenten Zutritt zum Wissenschaftsbetrieb der Technischen Hochschule Graz fanden.
Während des Zweiten Weltkriegs stieg die Frauenquote unter den Studierenden an der TH Graz stark an. Viele Frauen flüchteten vor dem Bombenkrieg aus Deutschland nach Österreich. Zwischen 1941 und 1944 kamen wesentlich mehr deutsche Studentinnen nach Graz an die Technische Hochschule.
Lorle Herdey bekam 1945 als erste Frau eine eigene Assistentenstelle an „ihrer“ Hochschule – als Assistentin des legendären Fritz Zotter am Institut für Baukunst und Entwerfen. Es muss eine bewegte Zeit im Leben der jungen Architektin gewesen sein, denn ab dem Wintersemester 1945/1946 hatte sie als erste Frau einen Lehrauftrag inne. Sie unterrichtete das Fach Bauaufnahme und Architekturskizzieren. Und am 20. April 1946 heiratete sie Wilhelm Andreas Herdey. Mit ihm baute sie ein Architekturbüro auf, das bald schon seine Tätigkeit aufnahm. Außerdem übernahm sie während der Rektorenzeit von Zotter 1948/49 einen Großteil seiner Unterrichtstätigkeit und der Lehrkanzelverwaltung. All das führte dazu, dass Lorle, die nun den Namen Herdey trug, ihre Dissertation nicht rechtzeitig fertigstellen konnte und 1952 nicht wie geplant als Dozentin weiterbeschäftigt wurde. So blieb ihr eine weitere universitäre Karriere verwehrt, nicht aber die in der Architektur. Mit ihrem Ehemann schuf sie in den nächsten Jahrzehnten Industrie-, Wohn-, Kultur-und Spitalbauten in ganz Österreich und im Ausland. Unter anderem realisierten die beiden In Zusammenarbeit mit Karl Raimund Lorenz Neubauten für die Technische Hochschule wie das Wasserbaulaboratorium und Bauten für die Universität Graz. Lorle Herdey verstarb 2008 nach einem bewegten Leben im Alter von fast 85 Jahren.
Eleonore „Lorle“ von Savageri, spätere Herdey (ganz rechts) in Aktion.
Swetlana Winnikow – erste Maschinenbau-Absolventin und Professorin an der Michigan Tech
Auch wenn zwischen dem ersten Lehrauftrag für eine Frau und der ersten ordentlichen Professur an eine Frau – Architektin Karin Wilhelm im Jahr 1991 – wiederum 46 Jahre vergingen, brachte die TH Graz schon zuvor eine Professorin hervor. Sie wurde als Swetlana Redtko-Redtschenko am 14. August 1919 in Luzk in der heutigen Ukraine geboren. Nach bewegten Jugendjahren studierte sie zunächst an der Universität Zagreb Maschinenbau. Dieses Studium führte sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ab dem Wintersemester 1945/1946 an der Technischen Hochschule in Graz fort. 1947 legte sie auch die Zweite Staatsprüfung im Fach Maschinenbau ab. Damit ist sie die erste Frau, die an der heutigen TU Graz den Titel einer Diplomingenieurin im Maschinenbau erfolgreich erwarb. Im selben Jahr heiratete sie und nahm den Familiennamen Winnikow an.
Wie viele andere junge Menschen aus Österreich wanderte sie aufgrund der Wirtschaftskrise in den frühen 1950er-Jahren aus, ging zunächst nach Australien und arbeitete im 1952 gegründeten Department of Works. Dort entwickelte sie Dieselmotoren und überwachte und kontrollierte neue Laboratoriums- und Testeinrichtungen.
Um das Jahr 1960 zog es Swetlana Winnikow nach Amerika. Sie unterrichtete an der Universität von Illinois, wo sie 1965 zusätzlich das technische Doktorat erwarb, und an der Universität Calgary in der kanadischen Provinz Alberta. 1967 wechselte sie an das Department of Mechanical Engineering der Michigan Technological University in Houghton. Noch im selben Jahr wurde sie dort zur ersten Professorin für Ingenieurwissenschaften bestellt. Winnikow wurde von ihren Kolleginnen und Kollegen ebenso geschätzt wie von den Studierenden. Sie entfaltete in den Jahren in Houghton eine aktive Forschungs- und Publikationstätigkeit und stand ihrem Lehrstuhl bis zum Jahr 1981 vor. Bei ihren Studierenden galt sie menschlich als hingebungsvolle Professorin. In der Lehre schuf sie optimale Voraussetzungen, um ihr Gebiet der Strömungslehre und Strömungsmechanik sowie der Thermodynamik verständlich zu vermitteln.
Winnikow verstarb 1981 unerwartet nach kurzer Krankheit. Ihr Erbe floss in ein Stiftungsstipendium, das einem Doktoranden beziehungsweise einer Doktorandin das Studium der Thermo- und Strömungsdynamik erleichtern sollte. Dieses Stipendium wird auch heute noch vergeben – und erinnert an die erste Absolventin der Technischen Hochschule Graz, die es zu einer Professur gebracht hat – wenn auch nicht in Österreich.