Nur fünf Kilometer von der Altstadt Sarajevos entfernt liegt die Burg Vraca im weitläufigen, gleichnamigen Gedenkpark an den Hängen des Berges Trebević. In vier verschiedenen Epochen des 20. Jahrhunderts war die Anlage Festung, Hinrichtungsstätte, Gedenkstätte und Militärstützpunkt. Als Österreichisch-Ungarische Festung errichtet, fungierte Vraca während des Zweiten Weltkriegs als Hinrichtungsstätte und Sammelstätte für Deportationen. In der jugoslawischen Ära zum Museum und Gedächtnispark des anti-faschistischen Widerstandes ausgebaut, wurde das 78.000 Quadratmeter umfassende Gelände im Bosnienkrieg der 1990er Jahre als Stützpunkt für die Belagerung Sarajevos genutzt und dabei weitgehend zerstört. Die Nachkriegsregierung des neuen Staates Bosnien und Herzegowina erklärte den Park 2005 zum nationalen Denkmal und restaurierte ihn teilweise. Das ungeliebte nationale Denkmal von Bosnien und Herzegowina wurde seit dem Ende des Bosnienkrieges 1995 immer wieder Ziel bewusster Zerstörung und ist heute – weitgehend dem Verfall preisgegeben – für die Bevölkerung gesperrt.
Spielplatz inmitten der Zerstörung
Dieses schwierige Erbe ist Ausgangspunkt und zugleich Motivation für die kürzlich mit dem „Young Talent EUmies Award 2023“ ausgezeichnete Masterarbeit „VALTER - Vraca Forum Sarajevo" von Dinko Jelečević. Für Jelečević ist die Verfallsstätte ein Schauplatz seiner Kindheit. „Dieser Ort war ein Spielplatz meiner Kindheit und Jugend. Aus diesem persönlichen Bezug heraus war es mir ein Anliegen, in meiner Masterarbeit ein Konzept vorzulegen, wie die Festungsanlage und der Gedächtnispark wieder zu beleben wären – auch wenn es vonseiten der Stadtverwaltung derzeit keine konkreten Umsetzungspläne gibt“, erklärt der TU Graz-Absolvent.
Gerade die komplexe Geschichte von Vraca und die prekäre geostrategische Position an der Grenzlinie zwischen der Föderation Bosnien und Herzegowina und der Republika Srpska sieht Jelečević als räumliches Potenzial und Chance der Emanzipation von der Vergangenheit. Wie er aus einem Ort der Zerstörung einen Raum für eine gemeinsame Vision der Zukunft entwickelte, trug ihm einen der renommiertesten europäischen Nachwuchspreise für Architektur ein. Die Preisjury betont in ihrem Protokoll, dass das Projekt VALTER in hervorragender Weise das Potential von Architektur als Vermittlungsinstrument zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart aufzeigt – und gleichzeitig den Weg in die Zukunft weist.
Die EUmies Awards zu Ehren von Ludwig Mies van der Rohe werden für herausragende zeitgenössische Architektur vergeben. Zweijährlich alternierend dazu gibt es Nachwuchspreise für junge Absolvent*innen in den Bereichen Architektur, Stadtplanung und Landschaftsarchitektur. Dinko Jelečevićs Gewinnerprojekt sowie die Projekte aller Finalist*innen werden noch bis November 2023 im Rahmen des Ausstellungsprogramms der Architekturbiennale in Venedig im Palazzo Mora zu sehen sein.
Integration der Vergangenheit
Für seinen Entwurf „VALTER“ erforscht Jelečević die historischen Schichten und setzt die räumlichen Elemente in Bezug zu den Ereignissen der Vergangenheit. Daraus entwickelt er, basierend auf dem Konzept des Palimpsests, das heißt der Überschreibung, eine neue Schicht: das Forum. „Die Forumstypologie bietet eine Plattform für das gemeinschaftliche Verständnis der umstrittenen Vergangenheit und ermöglicht die Schaffung einer partizipativen Gesellschaft der Zukunft“, erklärt Jelečević seinen ganzheitlichen Ansatz. Architektonisch ist das Forum eigefasst in einen neuen Körper, der sich durch das verwendete Material deutlich erkennbar vom historischen Bestand abhebt. Dieser Körper schwebt über der Anlage und bildet eine architektonische Klammer, die das Gewesene und das Zukünftige zusammenfügt.
Dinko Jelečević studierte zunächst in Sarajevo und Barcelona und finalisierte das Bachelorstudium an der Fakultät für Architektur der TU Graz. Das Masterstudium Architektur schloss er 2022 ebendort ab. Seine Abschlussarbeit „VALTER – Vraca Forum Sarajevo" wurde von Petra Petersson am Institut für Grundlagen der Konstruktion und des Entwerfens (KOEN) betreut. Derzeit arbeitet Jelečević freiberuflich im Bereich der 3D Visualisierung, in einem Architekturbüro in Graz sowie an diversen Projekten mit seiner Partnerin Ena Kukić. Mehr Informationen dazu auf der Webseite E+D
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