Erst vor wenigen Monaten stellten Anna Maria Coclite und ihr Team vom Institut für Festkörperphysik der TU Graz die Ergebnisse ihrer Forschung im Rahmen von Coclites ERC Starting Grant-Projekt „SmartCore“ vor: Es war gelungen, das Drei-in-Eins-Hybridmaterial „Smartskin“ zu entwickeln, das der menschlichen Haut sehr nahe kommt, indem es Druck, Feuchtigkeit und Temperatur simultan wahrnimmt und in elektronische Signale umwandelt. Mit 2.000 einzelnen Sensoren pro Quadratmillimeter ist das Hybridmaterial feinfühliger als menschliche Fingerspitzen und mit 0,006 Millimetern um ein Vielfaches dünner als menschliche Haut. Durch die Reaktion auf die drei zuvor genannten menschlichen Sinneseindrücke übertrifft Smartskin alle bis dato am Markt befindlichen elektronischen Hautmaterialien, die lediglich auf Druck und Temperatur reagieren.
Auf dem Weg zur Kommerzialisierung
Proof of Concept (PoC) Grants des European Research Council (ERC) fördern Forschende, die bereits einen ERC Grant eingeworben haben, und die nun ihre Forschungsergebnisse auf vermarktbares Innovationspotenzial testen möchten. Ausgehend vom vorhandenen Prototyp der smarten Haut möchte die Wissenschafterin mit der PoC-Förderung die drahtlose Verbindung der elektronischen Haut zu einem Echtzeit-Überwachungssystem entwickeln. Damit sollen wichtige Daten zu Temperatur, Feuchtigkeit und Druck über Bluetooth an eine Smartphone-App übertragen werden, mit der sich die aufgezeichneten Sinneseindrücke darstellen lassen. Dies stellt eine zentrale Weiterentwicklung der aktuell noch unhandlichen verdrahteten elektrischen Auslesung der Daten dar und ist ein wichtiger Schritt hin zur Darstellbarbarkeit der Smartskin-Vorteile gegenüber potenziellen Kunden. Industriepartner, darunter Roboterhersteller, Prothetikunternehmen oder Medizinprodukteerzeuger, sollen früh in die Weiterentwicklung der Smartskin eingebunden werden, um deren Anforderungen entsprechend berücksichtigen zu können.
„Wir können mit dieser EU-Förderung einen wichtigen Schritt hin zur Markteinführung der Smartskin machen. Es wird spannend zu sehen, wie die Ergebnisse unserer Grundlagenforschung konkrete Anwendung im Monitoring, im Gesundheitsbereich oder der Robotik finden können“, freut sich Anna Maria Coclite über den PoC-Grant.
Potenzielle Anwendungsbereiche der Smartskin
Kommerzielle Anwendungsbereiche für das an der TU Graz entwickelte multisensorische Hybridmaterial gibt es viele und der Markt weltweit groß. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ziehen sich jährlich rund 200.000 Menschen schwere Verbrennungen zu und erleiden durch das Absterben der Hautrezeptoren einen vollständigen Gefühlsverlust. Smartskin könnte als „Pflaster“ den Brandopfern helfen, ihre Gefühle wiederzuerlangen. Auch die Herstellung intelligenter Prothesen könnte Smartskin revolutionieren. Moderne Prothesen reproduzieren Bewegungen und sind – wenn möglich – mit den Nervenenden verbunden, so dass Patientinnen und Patienten die Roboter-Gliedmaße mit dem Gehirn steuern und bewegen können. Smartskin könnte die Prothesen bedecken und die sensorischen Informationen sammeln. Laut einer Schätzung der WHO benötigen weltweit rund 30 Millionen Menschen eine Prothese. Generell eröffnen sich breite Anwendungsmöglichkeiten im Medizinproduktesektor: als Sensor in intelligenten Uhren eingesetzt, sammelt das neuartige multisensorische Hybridmaterial präzise Informationen über den Gesundheitszustand von Patientinnen und Patienten. So könnten Hautfeuchtigkeit, pH-Wert und Temperatur kontinuierlich überwacht werden. Der Markt ist groß: 2022 nutzten rund 216 Millionen Menschen weltweit eine Smartwatch.
Erster Proof of Concept Grant für die TU Graz
War Anna Maria Coclite 2016 die erste Frau mit einem ERC Grant an der TU Graz, so ist sie jetzt die erste Forschende überhaupt, die einen ERC Proof of Concept Grant an die TU Graz holt. PoC-Grants des European Research Council sind mit 150.000 Euro für maximal 18 Monate dotiert. Wichtige Forschungspartnerin bleibt auch im Proof of Concept-Projekt die Forschungsgesellschaft Joanneum Research, die gemeinsam mit der TU Graz das Patent an Smartskin hält.
An der TU Graz ist die Materialforschung im Field of Expertise „Advanced Materials Science“ verankert, einem von fünf strategischen Forschungsschwerpunkten.