News + Stories: Was ist eigentlich ein Großmotor?
Andreas Wimmer: Alle Motoren, die über Nutzfahrzeuggröße liegen, bezeichnen wir in der Regel als Großmotoren. Die Grenze liegt also bei etwa 2,5 Liter Hubvolumen pro Zylinder. Solche Motoren werden nicht mehr auf der Straße eingesetzt, sondern als Energieerzeugungsanlagen, Schiffs- und Lokomotivantriebe sowie in Mining Trucks und sonstigen Anlagen der Industrie.
Gibt es neben der Größe qualitative Unterschiede zu kleineren Motoren, die in Autos und Lastwagen eingesetzt werden?
Nicole Wermuth: Früher wurden Großmotoren für die Stromerzeugung überwiegend für die Volllast optimiert, da sie vor allem für die Grundlastversorgung eingesetzt und relativ konstant betrieben wurden. Durch die zunehmenden Anteile von Wind- und Solarenergie im Stromnetz und die daraus entstehenden Schwankungen in der Stromproduktion geht es aber bei der Erzeugung elektrischer Energie mit Großmotoren mittlerweile mehr darum, sehr dynamisch zu sein, damit diese Schwankungen optimal ausgeglichen werden können. Deswegen verschiebt sich auch die Entwicklungstätigkeit sehr stark in Richtung einer verbesserten Dynamikfähigkeit der Großmotoren, während es sich bei Pkw-Motoren, die bis jetzt sehr dynamisch betrieben wurden, genau umgekehrt verhält. Sie werden bei Hybridkonzepten eher stationär betrieben, um möglichst wenig Kraftstoff zu verbrauchen. Die Anforderungen an Motoren - groß wie klein - haben sich also sehr geändert.
Wenn Großmotoren dynamischer werden müssen, was heißt das für die Konstruktion?
Nicole Wermuth: Das Brennverfahren muss angepasst werden - die Turbolader-Auslegung, die Nockenwellen, die Ventilsteuerzeiten und die gesamte Steuerung bzw. Regelung des Motorensystems. Es werden beispielsweise auch elektromotorisch unterstützte Turbolader eingesetzt, die über die Abgasenergie hinaus auch elektrische Energie nutzen, um schnell auf einen höheren Lastzustand zu kommen.
Grundsätzlich ist der Wirkungsgrad bei Großmotoren sehr viel entscheidender als bei kleineren Motoren, ebenso die Langlebigkeit
Wo kommen solche dynamischen Großmotoren schon zum Einsatz?
Andreas Wimmer: Ein aktuelles Beispiel ist das Küstenkraftwerk im norddeutschen Kiel. In diesem Heizkraftwerk kommen 20 Großgasmotoren der Baureihe 9 von INNIO Jenbacher mit einer Gesamtleistung von 190 MW zum Einsatz, deren Brennverfahren am LEC (Large Engines Competence Center) und der TU Graz maßgeblich mitentwickelt wurde. Durch den modularen Aufbau können die Motoren sehr flexibel betrieben werden und das Kraftwerk kann sehr schnell auf Änderungen im Netz reagieren. Wenn zum Beispiel im Sommer plötzlich Wolken aufziehen und ein großer Teil der Solarenergie wegfällt, kann mit den Motoren ein effizienter Ausgleich im Bereich weniger Minuten bewerkstelligt werden.
Mit dem angestrebten hohen Anteil an Wind- und Solarenergie in der Stromproduktion wird diese Flexibilität der Großmotoren zukünftig noch wesentlich wichtiger werden. Großmotoren werden damit als „Enabler“ für die klimaneutrale Stromerzeugung unverzichtbar sein. Ebenso wird die Kopplung der Betriebsstrategie der Anlagen mit präzisen Prognose-Modellen an Bedeutung gewinnen – beispielsweise für die Planung von notwendigen Wartungsarbeiten oder die Einbindung von Wettervorhersagen in die Optimierung des Motorhochlaufs. Dazu wird zunehmend auf KI-basierte Modellansätze zurückgegriffen werden.
Derzeit werden die Kraftwerksmotoren in Kiel noch mit Erdgas betrieben ...
Andreas Wimmer: Ja, aber es gibt die klare Absichtserklärung der Anlagenbetreiber in Kiel, den Betrieb bis 2035 komplett auf Wasserstoff umzustellen. Der Wasserstoff soll dann mit der in der Region ausreichend zur Verfügung stehenden Windenergie erzeugt und auch lokal gespeichert werden. Insgesamt kann damit klimaneutral Wärme und Strom für eine große Anzahl an Verbrauchern zur Verfügung gestellt werden.
Gibt es weitere Unterschiede in den Anforderungen an Großmotoren im Vergleich zu kleineren Motoren?
Nicole Wermuth: Grundsätzlich ist der Wirkungsgrad bei Großmotoren sehr viel entscheidender als bei kleineren Motoren, ebenso die Langlebigkeit. Das sind zwei Aspekte, in denen sich Großmotoren deutlich von den Motoren unterscheiden, die wir auf der Straße sehen.
Relevant bei der Lebensdauerbetrachtung sind eigentlich nicht die Jahre zwischen Inbetriebnahme und Entsorgung, sondern viel mehr die Betriebsstunden
Warum ist der Wirkungsgrad hier noch wichtiger als beim Auto?
Nicole Wermuth: Weil die Kosten für den Kraftstoff bezogen auf die Gesamtlebenskosten einen wesentlich größeren Anteil haben. Der Kraftstoffkostenanteil liegt für Großmotoren bei den meisten Anwendungen weit über 90 Prozent.
Wie lange hält denn so ein Großmotor?
Andreas Wimmer: Sehr lange! Das ist ja auch ein sehr wichtiger Nachhaltigkeitsaspekt! Im Bereich der Energieerzeugung sind es in der Regel mindestens zehn Jahre, im Marinebereich 40, 50 Jahre und mehr. Auch Lokomotivmotoren bleiben sehr lange im Einsatz.
Nicole Wermuth: Relevant bei der Lebensdauerbetrachtung sind eigentlich nicht die Jahre zwischen Inbetriebnahme und Entsorgung, sondern viel mehr die Betriebsstunden. Während Pkw-Motoren einen Großteil des Tages stillstehen, laufen Großmotoren in der Regel rund um die Uhr. Und das bei hoher Last: Bei Motoren in der Grundlast-Stromerzeugung sind das dann rund 8000 Volllast-Stunden pro Jahr!
Andreas Wimmer: Aufgrund der sehr langen Lebensdauer der Großmotoren ist die Entwicklung von Retrofit-Lösungen auch so wichtig: Lösungen, mit denen wir die Motoren zukünftig möglichst einfach auf Wasserstoff, Ammoniak oder andere alternative Kraftstoffe umstellen können und sie damit lange im Einsatz halten. Das ist übrigens neben der Forschung an gänzlich neuen Konzepten für die motorische Nutzung von klimaneutralen Kraftstoffen auch einer der wesentlichen Schwerpunkte des COMET K1 Programms LEC GETS (Green Energy and Transportation Systems), das aktuell am LEC in Kooperation mit der TU Graz und etwa 30 weiteren Partnern aus Wissenschaft und Industrie bearbeitet wird.
Dieses Forschung ist in den Field of Expertise „Mobility & Production“ sowie "Sustainable Systems" verankert, zwei von fünf strategischen Schwerpunktfeldern der TU Graz.
Seit den 1990er Jahren wird in Graz Großmotorenforschung von Weltruf betrieben.
Das Institut für Thermodynamik und nachhaltige Antriebssysteme (ITnA) der TU Graz und das Large Engines Competence Center (LEC) forschen gemeinsam an der Entwicklung nachhaltiger Energie- und Transportsysteme und damit an der Dekarbonisierung dieses Sektors.
Während sich das Institut der Grundlagenforschung und Lehre widmet, wird am LEC - insbesondere im Rahmen des COMET K1 Forschungsprogramms LEC GETS (Green Energy and Transportation Systems) – anwendungsorientierte Forschung betrieben, deren Ergebnisse unmittelbar in die Lehre einfließen. Die dazu notwendigen experimentellen Untersuchungen werden großteils an der weltweit einzigartigen Prüfstandsinfrastruktur des LEC am Campus Inffeldgasse der TU Graz durchgeführt. Neben bezahlten wissenschaftlichen Arbeiten zu spannenden Themen stehen den Studierenden auch interessante Karrierewege in der Großmotorenforschung am Standort Graz offen.
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