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Eine Umleitung für die Handfunktion

17.09.2018 | Planet research | FoE Human & Biotechnology

Von Birgit Baustädter

Das Projekt MoreGrasp geht zu Ende und kann mit beachtlichen Ergebnissen aufwarten: Mit neuen Hirnsignalen kann die gedankliche Steuerung von Neuroprothesen in Zukunft wesentlich vereinfacht werden.

Gernot Müller-Putz leitete das gerade abgeschlossene Projekt MoreGrasp. © Lunghammer – TU Graz

Marcel ist querschnittgelähmt, kann seine Beine nicht und seine Arme nur teilweise bewegen. Er kann Gläser nicht angreifen und braucht Unterstützung beim Essen. „Die weitverbreitete Annahme ist, dass man in einem solchen Fall nichts mehr tun kann. Dass die Querschnittlähmung eine unveränderliche Tatsache ist“, erklärt Gernot Müller-Putz vom Institut für Neurotechnologie der TU Graz. „Das muss aber gar nicht so sein.“ Er will Menschen wie Marcel zu mehr Lebensqualität und Selbstständigkeit verhelfen.

Brain-Computer Interfaces

Gernot Müller-Putz forscht an Brain-Computer Interfaces – kurz BCI oder übersetzt Gehirn-Computer-Schnittstellen. Diese Schnittstellen können per Elektroenzephalografie – kurz EEG – gemessene Hirnströme in Computerbefehle übersetzen, die wiederum eine Neuroprothese steuern können. „Bei einer Querschnittlähmung sind ja alle Schaltzentren im Gehirn und die Muskeln im betreffenden Körperteil noch vorhanden, nur die Leitung zwischen Gehirn und Extremität ist unterbrochen. Das umgehen wir, indem wir das Gehirn mit einem Computer kommunizieren lassen, der wiederum den Befehl an die Muskeln weiterleitet“, erklärt der Professor. Angesteuert und zur Bewegung animiert werden die Muskeln mit Elektroden, die außen am Arm angebracht sind und zum Beispiel das Schließen und Öffnen der Finger auslösen können.

Am linken Bild hält eine Hand mit schwarzem Handschuh ein Glas. Im rechten Bild hälte eine Hand im schwarzen Handschuh einen silbernen Schlüssel.

Verschiedene Griffvarianten wurden im Projekt untersucht: Der Palmargriff, der Lateralgriff, das Aufmachen der Hand und das Drehen nach innen und außen.

Bisher arbeitete man mit einem gedanklichen Umweg, um ausreichend unterscheidbare Signale zur Steuerung der Neuroprothese zu generieren: Die Probandin oder der Proband dachten beispielsweise an ein Fuß-heben-und-Senken und das per EEG gemessene gedankliche Signal öffnete die rechte Hand. Dachte sie oder er an eine linke Handbewegung, schloss sich die rechte Hand wieder. Welche Gedanken der jeweiligen Bewegung zugeordnet wurden, war dabei irrelevant – wichtig war nur die ausreichende Unterscheidbarkeit der dabei erzeugten Hirnströme.

Diese Technik entwickelte das Team an der TU Graz in Kooperation mit der Universität Heidelberg, dem Kompetenzzentrum KnowCenter, der Universität Glasgow und den Unternehmen Bit Brain Technologies sowie MEDEL im gerade abgeschlossenen, vom EU-Programm Horizon 2020 geförderten Projekt MoreGrasp weiter und schaffte einen Paradigmenwechsel. Der gedankliche Umweg ist nun nicht mehr notwendig, erklärt Müller-Putz: „Wir nutzen nun das sogenannte ‚attempted movement‘ – also den Versuch, eine Bewegung auszuführen.“ Die Probandin oder der Proband versucht dabei die Bewegung – zum Beispiel den Griff nach einem Glas Wasser – auszuführen. Wegen der Querschnittlähmung wird das dabei entstehende Hirnsignal aber nicht weitergeleitet, kann aber mittels EEG gemessen und vom Computersystem verarbeitet werden. Verschiedene Griffvarianten wurden im Projekt untersucht: Der Palmargriff (Zylindergriff, nach einem Glas greifen), der Lateralgriff (Schlüsselgriff, einen Löffel in die Hand nehmen), das Aufmachen der Hand und das Drehen nach innen und außen.

Ein User trainiert mit einer eigens konzipierten Trainingssoftware im Projekt MoreGrasp.

„Es sind nur sehr kleine Unterschiede zwischen dem Signal, ein Glas anzugreifen, und dem, die Finger danach wieder zu öffnen. Aber diese Unterschiede finden wir gerade heraus und lassen davon die Neuroprothese direkt ansteuern. Wir haben erkannt, dass dieser Forschungsbereich noch sehr am Anfang steht, aber wir haben diese Signale neu eingeführt und damit einen sehr wichtigen Schritt getan“, freut sich Müller-Putz. Eine völlig neue Möglichkeit, die eine deutliche Erleichterung für die Nutzerinnen und Nutzer mit sich bringen kann.

Groß angelegte Studie

Im Rahmen des Projekts wurde eine eigene Online-Plattform zur Vernetzung Interessierter und Betroffener eingerichtet. Dort können sich Endnutzerinnen und -nutzer auch für die Teilnahme an einer groß angelegten Machbarkeitsstudie registrieren, die die im Projekt entwickelte Technik auf ihre Alltagstauglichkeit überprüfen soll. „Wir werden anschließend alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die für unsere Studie infrage kommen, mit einem eigens entwickelten Toolkit auf ihre motorischen Fähigkeiten testen. Dabei schauen wir uns EEG-Muster an, testen, ob die Muskeln mittels Elektrostimulation angesteuert werden können, und machen ein komplettes Assessment aller vorhandenen Muskelkräfte und Bewegungsausmaße“, erklärt Müller-Putz die aufwendige Untersuchung. Danach wird jeder Probandin und jedem Probanden ein maßgeschneidertes BCI-Training zur Verfügung gestellt, das in mehrere Stunden dauernden Sessions jede Woche eigenverantwortlich absolviert werden muss. So werden Hirnsignale gesammelt und das System lernt bei jedem Versuch dazu.

Ein User hält mithilfe einer Neuroprothese eine Dose hoch. Diese Bewegung konnte er vorher nicht durchführen.

Der erste Griff

Neben der bahnbrechenden Forschung sind Müller-Putz und sein Team vor allem um Bewusstseinsbildung bemüht. Kurz vor Projektbeginn wurde in Heidelberg die erste Ambulanz in Europa eröffnet, die sich auf Neuroprothesen spezialisiert hat. Und auch bei anderen Ärztinnen und Ärzten sehe man zunehmendes Interesse an der Thematik: „Wie gesagt, war man bisher der Meinung, dass eine Querschnittlähmung eine Tatsache ist. Und man kommt langsam drauf, dass es gar nicht so sein muss.“ Aber vor allem für die betroffenen Personen ist die Forschung ein wichtiger Schritt, erklärt Müller-Putz, selbst mit unverhohlener Freude im Gesicht: „Wenn sich nach Jahren plötzlich die eigene Hand bewegt, dann ist das für die Leute ein Wahnsinn. Dieses Grinsen, das sie dann haben – das ist einfach nicht zu beschreiben.“

Dieses Forschungsgebiet ist im FoE „Human & Biotechnology“ verankert, einem der fünf Stärkefelder der TU Graz.
Mehr Forschungsnews aus diesem Bereich finden Sie auf Planet research.

Information

2019 findet an der TU Graz die CYBATHLON BCI Series 2019 statt – internationale BCI Racing-Teams treten dabei in Wettbewerben gegeneinander an und präsentieren ihre Forschungserfolge. Nähere Infos und Anmeldung für interessierte Teams auf der Website CYBATHLON BCI Series 2019. Eines dieser Teams wird das TU Graz-Team Mirage 91 BCI Racing Studierendenteam sein, die im Blog Talking about... über ihre Arbeit berichten.

Kontakt

Gernot MÜLLER-PUTZ
Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr.techn.
Institut für Neurotechnologie
Stremayrgasse 16/IV
8010 Graz
Tel.: +43 316 873 30700
gernot.muellernoSpam@tugraz.at