Carmen Auer (2016), Transiträume der Toten. Der Bautyp des runden Karners in Mitteleuropa, Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften; 1. Gutachter: Anselm Wagner, 2. Gutachter: Paul Naredi-Rainer; 652 Seiten, Deutsch.
Der Begriff Karner bezeichnet im deutschen Sprachraum den Bautyp des Beinhauses als einen Ort für die Zweitbestattung von menschlichen Gebeinen, in dem die bei der Umbettung oder Neubelegung von Gräbern eines Friedhofes übrig gebliebenen menschlichen Knochen aufbewahrt werden. Der Ursprung des Karners liegt im Toten- und Bestattungskult des Mittelalters, der eng verbunden ist mit der Wiederauferstehungslehre der christlichen Kirche. Die frühen Vertreter des freistehenden Karners waren überwiegend Rundbauten. In ihrer Außenform sind die romanischen Rundkarner einfache und massive Zylinder, mit kleinen Öffnungen und einem Kegeldach. Das konstitutive Merkmal des Rundkarners ist seine Zweigeschossigkeit, wobei sich im Untergeschoss das Beinhaus und darüber ein geweihter Kapellenraum befinden. Die kulturgeschichtliche Bedeutung, die der Rundkarner als bauliches Phänomen über viele Jahrhunderte für die christlichen Gemeinden in Mitteleuropa spielte, zeigt sich an dem – trotz widriger Umstände – relativ hohen Anteil an bis heute erhaltenen Bauten, die großteils aus der romanischen Bauperiode stammen. Da der Karner sowohl rechtlich als auch kirchlich eine untergeordnete Rolle spielte und schriftliche oder abbildende Quellen selten sind, ist das Gebäude an sich die wichtigste und unmittelbarste Quelle. Voraussetzung ist dementsprechend eine Bestandsaufnahme und Dokumentation der 93 noch in Mitteleuropa vorhandenen Bauten, die zeigen, dass sich besonders in einigen Teilen Österreichs eine hohe Anzahl von Rundkarnern erhalten hat. So einfach die Bauwerke an sich sind, so fassettenreich und signifikant sind Ausdruck und räumliche Inszenierung. Der freistehende Karner steht in direktem Zusammenhang mit Landschaft, Siedlungsbildung, Kirchhof, Bestattungsplatz und Kirche. Der Hauptteil der Arbeit besteht aus einer umfassenden und systematischen Analyse der noch erhaltenen Rundkarner, beginnend mit der Verbreitung und der Lage, den unterschiedlichen Aspekten der Bauform, der Bautechnik, der räumlichen Konfiguration und der Proportion, sowie den Umbauten und Umnutzungen, denen viele Rundkarner besonders seit der Aufklärung ausgesetzt waren. Wie kaum ein anderer Bautyp zeigt der Rundkarner, wie ein an sich sehr reduziertes Raumprogramm im Wechselspiel mit lokalen Bautraditionen und Vorstellungen in die Realität umgesetzt wurde. Das Einfache, Reduzierte und Archaische der Rundkarner vermittelt bis heute ein eindrucksvolles Bild. Dass diese Form nicht zum allgemeinen Formenkanon der kirchlichen Bauten passt und auch nicht den gewohnten Maßstäben entspricht, unterstreicht die Bedeutung des Rundkarners, der aus der Welt des Alltäglichen klar herausgehoben ist. Seit den frühen Publikationen im 19.Jh. war es vor allem dieses Andere, Unergründliche der Rundkarner, das sich nicht einordnen ließ und gerade deshalb die Phantasie anregte. Der Rundkarner ist in kulturgeschichtlicher Hinsicht besonders geeignet, das Gefühl für schicksalshafte und existentielle Erfahrungen einer historischen Vergangenheit zu vermitteln. Nach der Säkularisierung, die den Umgang mit den Todesritualen rund um den Karner weitgehend verschwinden ließ, der Umnutzung zu Kriegerdenkmälern und der Adaptierung zu Aufbahrungsräumen, stellt sich die Frage, wie ein zeitgemäßer Umgang mit den Rundkarnern heute aussehen kann.