GAM: Alexander Passer, Du hast die Stiftungsprofessur für Nachhaltiges Bauen an der Grazer TU-Architekturfakultät am 1. Januar 2022 angetreten. Uns interessiert zunächst dein Werdegang: vom Studium der Bauingenieurwissenschaften an der TU Graz nach St. Pölten in einen Postgraduate-Studiengang und dann wieder zurück an die TU Graz zur Dissertation. Wie bewertest du diese Schritte hinsichtlich deiner professionellen Ausbildung?
AP: In dem klassischen Studium der Bauingenieurwissenschaften habe ich Infrastruktur vertieft und mit dem Wunsch mich beruflich weiterzuentwickeln entschlossen das berufsbegleitende postgraduale Studium im Fachbereich Sanierungsmanagement zu absolvieren. Dadurch habe ich spannende Inputs bekommen, weil schon damals die Nachhaltigkeit ein wesentlich größeres Thema war; natürlich habe ich auch das Thema Sanierung in dieser postgradualen Weiterbildung gut vertiefen können. Das war dann die Grundlage für mein Doktoratsstudium an der TU Graz.
GAM: Du hast mit Infrastrukturthemen angefangen, dein Studium 2002 mit einer Arbeit zu Kreisverkehren abgeschlossen und den Fokus dann um die Nachhaltigkeitsthematik erweitert?
AP: Ja, genau, die Ausbildung der Bauingenieure ist relativ breit. Da haben mich unterschiedliche Themen immer interessiert und es ging dann in meiner Diplomarbeit darum, wie man den Verkehr nachhaltig gestalten kann. In den 1990er-Jahren sind ja die ersten Kreisverkehre zu uns gekommen, und ich konnte nachweisen, dass die Kreisverkehre in der Praxis wesentlich besser funktionieren; sie sind auch viel besser angenommen worden. Mein Professor ist leider damals ganz plötzlich verstorben und ich musste mich neu orientieren, so ist dann die Idee zum postgradualen Studium entstanden. Weil Gebäude und Infrastruktur miteinander in Wechselwirkung stehen, habe ich den Fokus auf Gebäude gelegt.
GAM: Zur Bewertung der umweltbezogenen Qualität von Gebäuden heißt folgerichtig deine Dissertation an der TU Graz von 2010. Danach warst du hier Assistant Professor und bist 2014 an der ETH Zürich als Guest Professor gewesen und hast in der Zeit an deiner Habilitation gearbeitet?
AP: Ja, ich bekam am Institut für Materialprüfung und Baustofftechnologie die Möglichkeit, den Tätigkeitsbereich Nachhaltigkeitsbewertung neu aufzubauen. Nach dem Abschluss meines Doktorats habe ich mit meinem Team 2013 das erste Mal die große Nachhaltigkeitskonferenz „Sustainable Built Environment“ (SBE) organisieren dürfen, wo über 500 internationale Wissenschaftler*innen nach Graz an die TU gekommen sind. Mein Kollege Professor Guillaume Habert von der ETH Zürich, der dort den Lehrstuhl für nachhaltiges Bauen hat, hat mich eingeladen, für ein Jahr als Gastprofessor nach Zürich zu kommen. Ich habe gar nicht lange überlegt, denn eine Einladung an eine der weltweit besten Universitäten muss man annehmen. In der Vorbereitung haben wir dann noch einen gemeinsamen Antrag beim Schweizerische Nationalfonds (SNF) geschrieben, der auch tatsächlich gefördert wurde. Es war eine spannende Erfahrung, weil die ETH extrem professionell organisiert ist, in der Lehre und auch in der Forschung. Noch immer haben wir einen sehr guten Austausch.
GAM: In deiner Habilitation 2016 hast du dann den Begriff der Nachhaltigkeit weniger in seiner Begriffsgeschichte untersucht, als vielmehr versucht, ihn operationalisierbar, das heißt, anwendbar oder praxistauglich zu machen. Daher lautet der Titel deines Buchs: Zur Operationalisierung der Nachhaltigkeit im Bauwesen: unter besonderer Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsbewertung von Bauprodukten und Gebäuden. Wie kann es gelingen, einen abstrakten Begriff in einer Habilitationsschrift anwendungstauglich zu machen?
AP: Meiner Meinung nach sind für diese Operationalisierung zwei Themenbereiche ganz wichtig: der eine ist das Wissenschaftliche, die Messbarmachung, um transparent und nachvollziehbar einen Bewertungsmaßstab zu etablieren, und auf der anderen Seite steht die Umsetzung. Bei der Umsetzung ist es mir darum gegangen, wirklich bei Bauvorhaben mitwirken zu können, um erstens zu sehen, wo die Hemmschwellen der Praxis sind, und zweitens, dass man Nachhaltigkeit auch in den Planungsprozess integrieren kann. Bei der Messbarmachung gibt es unterschiedliche Methoden, wo ich u.a. in den Normungsgremien auf europäischer Ebene, z.B. beim CEN/TC 350 mitarbeiten durfte. Das war damals auch ein Stück Pionierarbeit von allen Beteiligten. Es ging um Methoden für die Umwelt, wie kann ich z.B. den Treibhausgaseffekt messen, und nicht nur vom Betrieb, sondern auch von den Bauprodukten sprechen. In der Praxis geht es zudem immer um die Kosten, nicht nur die Baukosten, sondern auch die Lebenszykluskosten. Wie bringe ich das in die Projekte hinein, um sie zu verbessern, und zu versuchen, sie im Hinblick auf die Nachhaltigkeit zu optimieren.
GAM: Welche Grundsätze der Zusammenarbeit zwischen der planenden bzw. entwerfenden Disziplin und den ausführenden Leuten auf der Baustelle sind dabei wichtig?
AP: Es gibt sehr viele Wechselwirkungen mit anderen Disziplinen und man braucht einen Überblick, ein relativ starkes Fachwissen und muss die Bedürfnisse kennen, um beides zu integrieren. Zudem muss man über den Gebäudebetrieb als auch die Gebäudekonstruktion und wie es auf der Baustelle funktioniert etc. Bescheid wissen. Ein richtig guter Entwurf entsteht dann, wenn man auf der einen Seite die Wünsche des Auftraggebers bestmöglich umsetzen kann, im Sinne von: was ist die Funktionalität, was soll das Gebäude können, und dann auch performance- und lösungsorientiert arbeitet und nicht mit irgendwelchen Kennzahlen agiert. Das war das, was wir in vielen Forschungsprojekten umsetzen konnten, wenn es nicht nur um das Thema Energiesparen geht. Dass man über die klassischen Projektgrenzen hinaus nachdenkt, wie es zu einer besseren Lösung kommen kann.
GAM: Seit Anfang des Jahres 2022 hast du die Professur für Nachhaltiges Bauen an der TU Graz inne und bist der Architekturfakultät zugeordnet. Verstehst du das als eine Brückenposition zwischen der Bauingenieursfakultät und der Architekturfakultät? Oder wie würdest du deine Position an den Fakultäten verorten, die sich mit dem Bauen beschäftigen?
AP: Die internationale Erfahrung zeigt, dass diese eher stringente Trennung zwischen Architektur und Bauingenieurwesen eher typisch österreichisch ist. So gibt es (nicht nur) an der KU Leuven z.B. „Architectural Engineering“ mit Bestrebungen, die Fachdisziplinen näher zusammenzubringen. An der TU Graz haben wir vor vielen Jahren den postgradualen Lehrgang „Nachhaltiges Bauen“ initiiert, in dem die Architektur- und die Bauingenieurfakultäten ein gemeinsames Curriculum mit der TU Wien haben. In unserem Themenbereich geht es also um die Zusammenarbeit aller Beteiligten. Daher ist die Architekturfakultät eine gute Möglichkeit, weil am Anfang des Planungsprozesses der Entwurf steht, und dann andere Fachdisziplinen dazu geholt werden. Es ist wichtig, dies möglichst früh in den ganzen Planungsprozess, spätestens im Rahmen der Wettbewerbsauslobung, hineinzubringen. An der Architekturfakultät denke ich, geht es darum, den Studierenden die Bedeutung von Nachhaltigkeit in der Entwurfslehre klarzumachen und besser zu integrieren.
GAM: Wie stellst du dir das im Studienplan vor? Wie würdest du gerne deine Unterstützung im architektonischen Bereich anbieten? Im Bauingenieursstudium ist deine Arbeitsgruppe ja bereits intensiv vertreten.
AP: Es wäre wichtig, zu Beginn des Studiums bei den Studierenden das Bewusstsein für die Nachhaltigkeit zu schärfen. Themen wie Klimawandelvermeidung und Klimawandelanpassung sind neue Aspekte, die man im Entwurf mitdenken muss. Im Master muss dies entsprechend vertieft werden, entsprechende Methoden und Werkzeuge für das Messbarmachen kennen und anwenden lernen.
GAM: Die Arbeitsgruppe Nachhaltiges Bauen, die du leitest, ist stark forschungsorientiert. Wie sind die Querverbindungen zwischen Forschung und Lehre bei euch?
AP: Der Grund, warum wir sehr forschungsaktiv sind, liegt daran, dass das Thema sich rasant entwickelt; im Sinne einer forschungsgeleiteten Lehre müssen wir vorausblicken, wohin die Reise geht. Diesbezüglich hatten wir die Möglichkeit, auf europäischer Ebene für die Kommission direkt an den Themen mitzuarbeiten, die uns allen unter den Fingernägeln brennen, so gesehen haben wir da einen gewissen Wissens- und Zeitvorsprung. Wenn wir dann auch in den Gremien daran arbeiten und daher wissen, welche Regularien sich ändern werden, ist es unsere Aufgabe, die Studierenden bereits jetzt darauf vorzubereiten, was sie vielleicht erst in einigen Jahren wissen und umsetzen müssen.
GAM: In welchen Formaten könnten eure Impulse auf die Architekturlehre wirken?
AP: Wir bieten unterschiedliche Formate an. Vorlesungen, Workshops und Seminare. Die Studierenden denken eigentlich extrem innovativ und zukunftsorientiert. Wir haben vier Jahre lang auch eine internationale Summerschool organisiert, bereits damals war Thema, wie Gebäude klimaresilienter gemacht werden können. Die Studierenden haben einen offenen Zugang, der auch notwendig ist, denn bei uns ist jede Aufgabenstellung immer sehr fordernd, sie entwickelt sich rasant weiter, ob ich ein Bestandsobjekt habe oder neu entwerfe. Was spannend ist, wie man Architekturstudierende auf diese sich rasch verändernden Herausforderungen bestmöglich vorbereiten kann. Dies versuchen wir gerade mit neuen Lehrveranstaltungen, ich bin schon gespannt, wie uns dies gelingt.
GAM: Derzeit ist das Thema Nachhaltigkeit eines, das kaum erklärte Gegner hat. Das ist vielleicht der größte Unterschied zu anderen Forschungsthemen. Deshalb interessiert mich in so einer Situation, was die zukünftigen Forschungsbereiche oder -themen innerhalb dieses Nachhaltigkeits-Mainstreams sein könnten. Welcher Bereich ist wirklich innovativ? Wo wollt ihr also eure nächsten Forschungsschwerpunkte setzen?
AP: Das ist eine gute Frage, weil sie auch damit zu tun hat, dass die Methoden wichtig sind und die Fachkompetenz. Im Deutschen gibt es aus meiner subjektiven Wahrnehmung ein Missverständnis zwischen dem Begriff der Nachhaltigkeit – das alte deutsche Wort heißt „langfristig wirksam“ und der englischen Wortbedeutung, die „langfristige Verträglichkeit“ meint. Dazu kommt noch so ein klassisches Missverständnis, dass man die Nachhaltigkeit in drei Dimensionen (Soziales, Ökologie und Ökonomie) aufteilen könnte und diese völlig losgelöst voneinander betrachtet. Da greifen sich Unternehmen ihren subjektiven Maßstab heraus und bauen das nachhaltigste Auto, das nachhaltigste Flugzeug, den nachhaltigsten Werkstoff und das nachhaltigste, jüngst klimapositive Gebäude. Damit gerät der Begriff und das Ziel zur Beliebigkeit, und deshalb sind die Methoden für die Messbarmachung so wichtig. Dazu wollen wir beitragen und Kriterien definieren; wenn man also auf europäischer Ebene sagt, wir wollen ein klimaneutraler Kontinent sein, was heißt das dann für das einzelne Gebäude, wie können wir die Ziele herunterbrechen? Wie kann man die Pariser Klimaschutzziele versuchen nicht nur auf Österreich, sondern auch verursachergerecht und zukunftsverträglich anwenden? Dazu haben wir schon einige Publikationen verfasst.
GAM: Wie äußert sich das auf Gebäudeebene?
AP: Auch ein „nachhaltiges“ Gebäude, das irgendwo auf der grünen Wiese steht, hat meist einen relativ großen CO2-Fußabdruck wegen der gebäudeinduzierten Mobilität, der notwendigen Infrastruktur, das heißt, man muss alles mitdenken, damit langfristig eine zukunftsverträgliche Lösung herauskommt. Und das ist das, was wir in der Forschung versuchen zu adressieren. Wir arbeiten an Fragestellungen, die sich damit auseinandersetzen, wie Klimaneutralität tatsächlich bewertet werden kann. Denn viele vergessen gern, dass beim Bauen eines Hauses, einer Straße, eines Autos auch die sogenannte „Graue CO2-Emissionen“ entstehen, die wir miteinbeziehen müssen, weil sich die Rechnung im Sinne eines Treibhausgasbudgets sonst am Schluss nicht ausgeht.
GAM: Habt ihr eigentlich angesichts der Konjunktur des Nachhaltigkeitsdiskurses auch zurückgeschaut, welche Gruppe in ihren operativen Vorgängen nachhaltig gearbeitet hat und von welchen Prozessen wir deshalb viel lernen können?
AP: Wenn wir antizipieren, dass wir in eine Welt kommen, wo die Kreislaufwirtschaft wieder eine stärkere Rolle hat und die von erneuerbarer Energie getrieben wird, dann werden wir uns stärker auch wieder anpassen müssen, was unsere Ressourcen sein werden. Deswegen ist der Blick ein Stück zurück wichtig, aber durch die so rasant sich verändernden Rahmenbedingungen müssen wir viel stärker unserer Verantwortung gerecht werden und auch in die Zukunft schauen. Wie kann das Klima in 50 Jahren sein? Wenn alle fordern, dass die Gebäude mindestens 100 Jahre stehen und wir eine (dynamische) Lebenszyklusanalyse für die nächsten 100 Jahre machen sollen, muss ich mir überlegen, was ändert sich in den nächsten 100 Jahren in der Gesellschaft, im Klima?
GAM: Das erfordert ein anderes Denken, oder?
AP: Ja, als Junger ist man vielleicht eher darauf fokussiert, viel umzusetzen, aber je älter man wird, desto mehr denkt man auch darüber nach, ob alles, was man seinen Kindern zu verantworten hat, wirklich so nachhaltig war und ist, wie es scheint.
GAM: Danke für das Gespräch!