GAM: Alex Lehnerer Architekten schreiben auf ihrer Homepage: „Wir sind ein Architekturbüro, das baut, schreibt und lehrt.“ Kann man das auch als dein Ziel formulieren, Bauen, Schreiben und Lehren gemeinsam zu denken und zu praktizieren?
AL: Ja, alles andere wäre mir zu akademisch. Es gab und gibt immer wieder die Tendenz, Dinge der Komplexität und Hygiene wegen in Sparten aufzuteilen: die Theorie hat sich von der Geschichte getrennt, die Geschichte vom Entwerfen und von der Praxis. Diese Ebenen wieder zusammen zu sehen, ist ein großes Ziel – auch das meiner Arbeit: Keinen Unterschied zu machen zwischen Praxis und Theorie. Natürlich hat die Theorie auch ihre eigene Praxis, aber ich denke, sie wird relevant, wenn sie sich zielorientiert auf das Entwerfen richtet und sich das Haus, der Entwurf auf natürliche Weise aus diesem intensiven Nachdenken herauskristallisiert. Entwerfen ist zuallererst Nachdenken, dann folgen die Entscheidungen.
GAM: Du beschreibst Architektur als kulturelle und als persönliche Praxis. Wie hängen diese beiden Bereiche zusammen?
AL: Eng. Das Entwerfen sucht immer die Gegenwart als Kontext. Aber es gibt auch Erfahrungen, Erinnerungen, Techniken aus der Vergangenheit – kombiniert mit dem Verlangen nach Zukunft. Kurz, die Architektur ist natürlich eine zeitgenössische Praxis. Wir sind beeinflusst, wenn nicht sogar abhängig von einer unmittelbar kulturellen Umgebung. Gleichzeitig spekulieren wir, d.h. ähnlich der Arbeit eines Börsenspekulanten, bewerten wir das Bestehende immer wieder neu durch den Entwurf. Und dabei besitzen wir mal mehr, mal weniger Autonomie, d.h. persönliche Freiheit. Aber auch das ist eine eigene Entscheidung.
GAM: In deiner beruflichen Praxis bist du ja bereits sehr stark in der universitären Lehre verankert. Du warst ab 2012 Assistant Professor an der ETH Zürich und davor von 2008 bis 2012 Professor an der University of Illinois in Chicago, wo du ein Department of Urban Speculation gegründet hast. Was hat es damit auf sich?
AL: Als ich nach Chicago kam, war das die Zeit der großen Finanzkrise in den USA und es gab keine Jobs für die AbsolventInnen der Schule. Daher habe ich gemeinsam mit anderen eine kleine Gruppe gegründet, um über die Zukunft von Chicago nachzudenken und das auch mit der Lehre zu verbinden. So gab es dann Studios, die teilweise von den Studierenden mit geleitet wurden, in denen wir versucht haben, eine Art Gefäß für die spekulative Neubewertung unserer städtischen Umgebung zu schaffen. Nicht als Politiker oder Unternehmer, sondern als fröhliche Amateure, die wir ja nun mal sind als Architektinnen und Architekten.
GAM: Noch einmal zurück zu deiner Biografie: Du hast deinen Master an der University of California in Los Angeles gemacht, an der ETH Zürich promoviert, als Lehrender danach an der Uni in Chicago gearbeitet, um wieder an die ETH zurückzukehren…
AL: Ja, ich hab zweimal versucht, auszuwandern und beide Male hat mich die Zürcher Schule wieder zurückgeholt (lacht). Einmal als Doktorand und dann eben als Assistenzprofessor.
GAM: Dein Studium hast du allerdings an der TU Berlin begonnen?
AL: Genau, ich bin dann direkt an die UCLA und habe dort meinen Master gemacht, und wurde dadurch schließlich mit dem Fach sozialisiert. Die TU Berlin war ein Supermarkt, man hat sich selbst bedient. In den USA gab es damals eine stark theoretische, ideologische und polemische Aufladung der Schulen. Man musste sich entscheiden, wo man dazugehören wollte. Das war neu für mich. Und damit erstmal aufregend. Es gab etwas zu verteidigen und zu bekämpfen. Eine Unternehmung, die man als Diskurs bezeichnen kann.
GAM: Und dennoch bist du von der UCLA an die ETH gegangen, um zu promovieren.
AL: Ja. Nach soviel Los Angeles hatte ich eine große Frage in meinem Kopf: Was hat die Stadt mit dem Haus, das Objekt mit dem Feld zu tun? Ich dachte, diese Frage kann ich am besten in einem Doktorat beantworten. Heraus kam dann das Buch Grand Urban Rules. Mit Kees Christiaanse als meinem Doktorvater.
GAM: Nach der Dissertation bist du dann nach Chicago gegangen?
AL: Ja, ich wollte zurück in die amerikanische Stadt, die mich als kulturelles Phänomen noch immer stark beeindruckt. Mit ihrer stolzen Gelassenheit. Die Stadt als etwas, das einfach da ist – erklärbar aber schwer lenkbar. Einerseits inspirierend für das geistige Bewusstsein, aber auch sehr frustrierend für die eigene Arbeit als Architekt.
GAM: Wann hast Du schließlich beschlossen, neben Deiner universitären Forschung und Lehre auch ein eigenes Büro zu gründen, um die beiden Bereiche miteinander zu verbinden?
AL: Ich hatte einen Plan. Die akademische Arbeit sollte mir das Stipendium liefern, um möglichst unabhängig die eigene, kompromisslose Praxis zu finanzieren. Dieser Plan ging schief. Ehe ich mich versah, steckte ich bis über beide Ohren in der Akademie. Die praktische Arbeit war nur mehr Feigenblatt. Ich redete mich raus, dass ich erst mal schreiben muss, bevor ich baue. Nach ein paar Enttäuschungen, Brüchen, totaler Verzweiflung und schließlich den richtigen Bauherren wächst nun das Büro. Und ich merke, dass es keine Abhängigkeit zwischen Praxis und Theorie gibt, sondern nur ein freudvolles gegenseitiges Inspirieren.
GAM: Zur langjährigen Ringvorlesung „Architectural Research“ in unserem Doktoratsstudiengang an der TU Graz tragen sowohl Vortragende aus der akademischen Forschung wie aus unterschiedlichen Architekturbüros bei. Wir unterstreichen dadurch, dass der Forschungsbegriff in der Architektur noch offener ist als in anderen Disziplinen und versuchen, diese Offenheit mit einer gewissen Programmatik weiter zu entwickeln, der es darum geht, neue und unterschiedliche Forschungskonzepte in der Architektur vorzustellen, ohne von vornherein festzulegen, dass diese nur von einer Universität stammen müssen.
AL: Für mich macht den Unterschied eher die Motivation aus, warum man Forschung betreibt. Ich bin weniger daran interessiert, einen allgemeinen Erkenntnisgewinn zu erzeugen, sondern ich finde die Forschung spannend, wenn es tatsächlich persönliche Fragen sind, die einen in der Arbeit beschäftigten, und die man beantwortet haben möchte. Oftmals ist Forschung gerade in der Akademie begleitet von einer Relevanzdiskussion der Architektur, also einem Rechtfertigungsdruck. Was mich langweilt. Anstatt dessen finde ich die (historische) Übersicht – von dem zu lernen, was unsere Vorgänger gemacht haben – viel wichtiger für die Ausbildung, und um schließlich ein Architekt bzw. eine Architektin zu sein.
GAM: Du bist hier an der TU Graz auf die Professur für Raumgestaltung berufen und ich frage mich, ob Du innerhalb der Raumgestaltung ein kritisches Potential siehst, das dieses Lehrgebiet in die Lage versetzt, auch andere Bereiche der Architektur zu informieren?
AL: Es geht immer darum, dass man Projekte macht, die einen Beitrag leisten in ihrem unmittelbaren Kontext, u.a. auch als Service für den Bauherrn, etc. Aber es geht auch immer darum, dass ein Projekt einen Beitrag liefert für die Disziplin. Und meiner Meinung nach tut es das am besten, wenn eine Kritik des Bestehenden formuliert oder eine bestehende Frage behandelt wird. Daher glaube ich nicht, dass die Architektur verschiedene Bereiche/Genres besitzt, sondern maximal verschiedene Fragen. Das sichtbare Suchen nach geeigneten Fragen ist Teil jedes (guten) Entwurfs. Das ist mein Verständnis des Kritischen. Es geht nicht um eine globale Kommentierung, es geht um das Kritisieren von innen – aus dem eigenen Arbeiten heraus – mit den Mitteln, die der Architektur zur Verfügung stehen. Selbstkritik ist immer noch die stärkste Form der Kritik.
Und am Begriff der Raumgestaltung finde ich gut, dass er keinen Maßstab hat. Gestaltung, d.h. der Gestalt Präsenz zu geben ist das, was wir machen; doch Raum hat keinen Maßstab, der als Eingrenzung bereits feststeht. Das ist die aufregende Position des Instituts an der Fakultät, die – soweit ich das jetzt beurteilen kann – ein großes Maß an Freiheit mit sich bringt.