Graz Architecture Lectures 2024

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Die diesjährigen Graz Architecture Lectures, die von Aglaée Degros (Institut für Städtebau) und Klaus K. Loenhart (Institut für Architektur und Landschaft) konzipiert wurden, motivierten zum Verlassen der eigenen Komfortzone, um sich aus der Kraft des Kollektivs den gegenwärtigen gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen unserer Umwelt zu stellen. Obgleich das übergreifende Thema der Vorträge ernst war, herrschte in der Halle der Kronesgasse feierliche Stimmung, getreu Edgar Morins Devise, wonach „Genügsamkeit von Zeit zu Zeit durch Feierlichkeit ausgeglichen werden müsse“. Die eingeladenen Gäste, darunter Aktivist*innen, Architekt*innen und Wissenschaftler*innen, waren mutig genug, sich dieser Auseinandersetzung zu stellen und ihre Ansätze und Projekte, die kollektives Handeln ins Zentrum des architektonischen Schaffens rücken, zur Diskussion zu stellen. 

Den Eröffnungsvortrag hielt Felipe De Ferrari, Mitbegründer von Plan Común, einem Pariser Architekturbüro, das Strategien zur Maximierung von (öffentlichen) Gemeinschaftsräumen entwickelt. Die Arbeitsweise des Büros zeigt sich exemplarisch am „Maison Commune“ – einem kleinen Wohnungsprojekt in Paris, das mit einem beispielhaften Flächenverhältnis zwischen Wohnräumen (336,7 m2) und Gemeinschaftsräumen (230,2 m2) großzügige Begegnungsräume für dessen Bewohner*innen schafft. Das „Gemeinschaftssystem“ des Gebäudes besteht aus einer Halle mit infrastrukturellem Charakter, die an den Innenhof und das bestehende Haus anschließt und gleichzeitig genügend Platz für Fahrräder und Trolleys bietet, sowie aus einem geräumigen Gewächshaus in Holzbauweise auf dem Dach, das eine Gemeinschaftsküche und einen Wäscheraum beherbergt sowie einen privilegierten Blick auf die Stadt freilegt. Ein weiteres Projekt des Büros widmete sich der Wiederherstellung öffentlicher Räume in den modernistischen Tajamar-Hochhäusern in Santiago, Chile – dem Nachlass des chilenischen Architekten Fernando Castillo Velasco – die nun für alle Bürger*innen, Fußgänger*innen und Radfahrer*innen zugänglich sind. 

Lisa van der Slot, Architektin und Mitgeschäftsführerin der Rotterdamer Designagentur De Zwarte Hond, sprach über ihr Projekt „Superhub Meerstad“, das im grünsten Teil von Groningen liegt, einem Stadtviertel, in dem bis 2035 6.000 Wohneinheiten entstehen sollen. Die großflächige Holzkonstruktion mit gebäudehohen Glasfassaden ist als moderne Markthalle konzipiert, die eine unkomplizierte Anpassung für neue und ergänzende Nutzungen ermöglicht, sodass der Superhub mit der Nachbarschaft wachsen kann. Zurzeit sind im Superhub ein Supermarkt, ein Café und ein Gesundheitszentrum untergebracht. Demnächst soll er um ein Gemeindezentrum und eine Veranstaltungsstätte erweitert werden. Ein Multifunktionsdach, das mit Solarpaneelen und einer insektenfreundlichen Begrünung gestaltet ist, schafft überdachte Außenbereiche, die sich in die angrenzende Parklandschaft einfügen. Das zweite Projekt, das im Vortrag vorgestellt wurde war „The Stadsmaker“, ein neuer städtischer Gebäudekomplex rund um ein bestehendes Einkaufszentrum in der Stadt Zwolle, der zusätzliche Wohn-, Büro- und Einzelhandelsflächen und gleichzeitig vielfältige öffentliche Orte für Begegnungen schafft.

Christian Grisi Ganzer und Matthias Marschner (hirner & riehl architekten) sprachen in ihrem Vortrag über ihre Vorgehensweise bei der Umgestaltung bestehender Gebäude in Räume des Miteinanders und der Solidarität, die das zivilgesellschaftliche Engagement mittels aktivistischer Architektur und Sozialgenossenschaften aktiv fördern. Eines dieser Projekte, das „Bellevue di Monaco“, das aus einer Protestbewegung gegen die architektonischen Folgen der Immobilienspekulation sowie der Gentrifizierung Münchens hervorging, mündete in einer gemeinnützigen Genossenschaft, die den Umbau der Gebäude in der Müllerstraße 4–6 vorsah, um dort Wohnraum und ein Kulturzentrum für junge Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen. Das dort eingebundene Bellevue Café fördert interkulturellen Austausch zwischen Geflüchteten und Ortsansässigen und hat sich zu einer wichtigen Einrichtung entwickelt, in der nicht nur Beratung für Menschen mit Fluchterfahrung(en), sondern auch Konzerte, Filmabende, Theateraufführungen und Diskussionen stattfinden. Während der Umbauarbeiten stellten örtliche Handwerksbetriebe Geflüchteten Ausbildungsplätze zur Verfügung, die sie nach Projektabschluss weiterbeschäftigen konnten. 

Vertreten durch Judith Urschler und Thomas Kain, setzt auch das Architekturkollektiv Studio Magic (Wien/Graz/Innsbruck) ihren Schwerpunkt auf kooperative Entwicklungs- und Umsetzungsprozesse. Obwohl ihr Netzwerk aus Beteiligten und Wirkungskreisen laufend erweitert wird, sind sie sich den sozialen und räumlichen Verflechtungen eines jeden Projekts bewusst. Verdeutlicht wurde dieser Ansatz am Beispiel des „Neuberg College“ in Neuberg a. d. Mürz – einem ehemaligen Bahnhof, der derzeit saniert wird, um neuen Nutzungen Platz zu bieten, und der zusammen mit den Menschen vor Ort entwickelt wird, sodass ein „gemeinsamer Dialog zu unerwarteten Ergebnissen führen könne“. Außerdem berichteten sie über ihr mobiles Architekturbüro, das während des HDA-Architektursommers 2015 durch ländliche Gemeinden tourte, um Anwohner*innen gegen eine Mahlzeit persönliche Beratung in Architekturfragen und Entwürfe anzubieten.

Zuhal Kol und Carlos Zarco Sanz, die Gründer des interdisziplinären Architekturbüros Openact Architectures (Madrid/Istanbul), stellten ihren Arbeitsansatz offener Systeme vor, die als Ausgangspunkt für wandlungsfähige und flexible Infrastrukturen dienen. Zu den vorgestellten Arbeiten gehörten ein Landschaftsentwurf für die Wiederbelebung des öffentlichen Raumes in Tuzla (Istanbul), bei dem Einwohner*innen verschiedener Altersgruppen an der Gestaltung mitwirken, sowie eine Umgestaltung des öffentlichen Raums am Ufer der Sava in Zagreb, die darauf abzielt, das Flussufer durch „activator structures“ – bewegliche Pavillonstrukturen, die sich an die Jahreszeiten, die natürlichen Strömungsverhältnisse des Flusses –– zu beleben und an die kulturellen und sozialen Bedürfnisse der Nutzer*innen anpassen.

Im Namen der gemeinnützigen Initiative „Communa“ aus Brüssel, die sich für eine demokratischere, resilientere und kreativere Stadt engagiert, berichtete Oscar Bellier über die vorübergehende Besetzung – bzw. das Übergangsmanagement– leerstehender Gebäude als eine Möglichkeit, gemeinschaftliche Wohnraumlösungen und soziokulturelle Projekte mit Langzeitwirkung zu schaffen. Unter den derzeit zehn aktiven Besetzungen befinden sich zum Beispiel „Emil“, ein ehemaliges Bürogebäude, in einem Wohngebiet der Gemeinde Anderlecht, das in eine Gemeinschaftsunterkunft mit einer großen Terrasse und Garten umgewandelt wurde, in dem ukrainische Geflüchtete unterstützt werden, oder „Maxima“, eine 6.000 Quadratmeter große Bürofläche, die ursprünglich der Zentrale eines Unternehmens gehörte und nun (in Zusammenarbeit mit Samusocial) Unterkünfte, Gemeinschaftsbüros und Werkstätten für Frauen bietet. 

Den darauffolgenden Vortrag hielt Belinda Tato, Mitbegründerin von Ecosistema Urbano (Madrid/Boston), einem Büro, dessen Schwerpunkt auf sozial-ökologischem Planen liegt, d. h. sich der Verbesserung der sozialen und bioklimatischen Bedingungen in städtischen Kontexten annimmt. Das Cloudroom-Projekt auf dem Rasen der Columbus Central Middle School im US-Bundesstaat Indiana ist ein aufblasbarer Pavillon, dessen Material im Ausgangszustand platzsparend in einen Rucksack passt. Die Ventilatoren, die das Vordach aufblasen, erzeugen dabei eine leichte Brise, die die heiße Luft auf natürliche Weise nach oben drückt und sie durch die zentrale Öffnung aus dem Pavillon herausleitet, dadurch entsteht ein angenehmes Mikroklima im Inneren. Die Fläche am Boden schafft Raum für sozialen Austausch mit der örtlichen Gemeinschaft und kann gleichzeitig als externes Mehrzweck-Klassenzimmer genutzt werden. Ähnlich wie der „Cloudroom“ dient der Eco-Boulevard in Madrid als „social dynamizer“ und bietet durch Evapotranspiration bioklimatische Vorteile. Die Anpassungsfähigkeit der „air trees“ ermöglicht es, sie in ähnlichen städtischen Umgebungen einzusetzen. 

Abschließend stellte Yves Malysse in seinem Vortrag architektonische Strategien vor, die auf subtile und zugleich nachhaltige Weise mit dem vorhandenen Stadtgefüge interagieren. Exemplifiziert wurden diese anhand des Projekts „JGE“-Gemeindezentrum in Etterbeek, Belgien, das von seinem Büro Ura, das er zusammen mit Kiki Verbeeck leitet, entwickelt und realisiert wurde. Der Entwurf für das generationenübergreifende Zentrum vereint Sozialwohnungen, eine Kinderkrippe, ein Auditorium, ein Mehrzweckfoyer, ein Begegnungszentrum und eine Ludothek. Dabei bestand die Herausforderung darin, den Kontext der Avenue d‘Auderghem, den benachbarten Pétanque-Club (entworfen von Pierre Blondel), ein ehemaliges Gebäude und den neuen Anbau auf taktvolle Weise miteinander zu verbinden. Der Eingriff in die bestehende Struktur des Wohnblocks wurde so gering wie möglich gehalten – die „urbane Akupunktur“, wie Malysse es nennt, führte zu einem Foyer als Bindeglied zwischen den verschiedenen Räumen und Ebenen und zu einem Wegeleitsystem im Außenbereich, das die ehemaligen Privatgrundstücke zu einem zeitgemäßen Raum der städtischen Gemeinschaft vereint.

Auf die Vorträge folgten Podiumsdiskussionen, bei denen Studierende und Fakultätsmitglieder gemeinsam mit den Gastredner*innen auf der Bühne über das zukünftige Potenzial und Strategien kollektiver Zusammenarbeit in verschiedenen architektonischen Kontexten diskutierten. Die feierliche Stimmung der Veranstaltung wurde durch den experimentellen Sound des Grazer Kollektivs Flysch und einen feierlichen Emfang im Anschluss unterstrichen, dieser förderte Gespräche, die den Weg für neue Formen der Zusammenarbeit und innovative Netzwerke bereiten sollten.

Petra Eckhard, Max B. Spamer
 

© GAM.Lab, TU Graz