Graz Architecture Lectures 2023: "The Infraordinary"

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Die diesjährigen Graz Architecture Lectures, die am 20. und 21. April in der Halle der Kronesgasse 5 abgehalten wurden, stellten das Thema „The Infraordinary“ in den Mittelpunkt. Der Titel spielt auf einen Kunstbegriff des französischen Schriftstellers Georges Perec an. Das Infraordinäre ist dabei als Gegenbegriff zum Extraordinären zu verstehen und bezeichnet nicht einfach nur abwertend das Ordinär-Gewöhnliche, sondern ausdrücklich das Nicht-Außergewöhnliche. Also all jene Nebensächlichkeiten, an denen wir zumeist vorbeisehen. Auf die Architektur übertragen, sollten so alltägliche Formen architektonischer Praxis ebenso in den Blick geraten wie vermeintlich banale Architekturen, alltägliche Gebrauchsweisen außergewöhnlicher Architektur sowie Zwischenformen von Sehenswürdigem und Nicht-Sehenswürdigem. In sieben Vorträgen wurde nach der Tragfähigkeit des Begriffs des Infraordinären und seiner Verwendung in der Architektur gefragt.

Eröffnet wurde die Veranstaltung von Lisa Eder und Fekry Helal, die ihr Projekt Alltag vorstellten, ein regelmäßig erscheinendes Journal, in dem verschiedene Beiträge aus den Bereichen der Fotografie, der Literatur, der Grafik sowie der Wissenschaft versammelt werden, die sich der Beschreibung und Dokumentation von Alltagsphänomenen und Alltagspraktiken verschrieben haben.
Alexander Hagner plädierte in seinem Vortrag „Objekt & Prozess“ dafür, Architektur nicht einfach nur als fertiges Objekt zu beurteilen, sondern in erster Linie als Prozess zu verstehen. Am Beispiel u.a. von „Vinzirast-Mittendrin“, einem von Hagner verantworteten Wohnprojekt, in dem ehemalige Obdachlose und Studierende gemeinsam unter einem Dach leben, zeigte er, wie wichtig für den Erfolg eines solchen Projekts das gemeinsame Tun und vor allem der gemeinsam gelebte Alltag während des Bauprozesses ist.
Im Anschluss veranschaulichte die Wiener Architektin Anna Wickenhauser in ihren „Weiteren Befragungen zur sichtbaren Welt“, wie Unauffälliges auch Werk sein kann. Die Beispiele aus ihrer Entwurfspraxis (u.a. „Brunnenhaus Maria Siebenbrünn Türnitz“ und „Hauptplatz & Rochusplatz Stadtschlaining“) illustrierten ihren subtilen Umgang mit historischer Bausubstanz und mit deren zeitgemäßer Veralltäglichung.
Mit der raumpolitischen Dimension des Alltäglichen setzte sich Elisavet Hasa auseinander. Die Mitgründerin des Forschungs- und Designkollektivs „Fatura Collaborative“ berichtete in ihrem Vortrag über die informelle Besetzung und Ad-hoc-Umnutzung von Wohnungen und Geschäftslokalen in Gesundheitseinrichtungen, wie sie durch Solidaritätsinitiativen während der Wirtschaftskrise zwischen 2010-2020 in Athen stattfanden.
Dea Ecker und Robert Piotrowski nahmen in ihrem Vortrag die Idee des Banalen zum Ausgangspunkt und illustrierten anhand eigener Büroprojekte das gestalterische Potenzial, das sich aus gewöhnlichen Nutzungen und unspektakulären Bauelementen entfalten kann. Exemplifiziert wurde dieser Ansatz u.a. durch die Verwendung industrieller Förderbänder oder handelsüblicher Entwässerungsrohre, die durch neu zugewiesene Funktionen zu Designelementen wurden und die weitere Entwicklung des Entwurfs mitbestimmten.
Branko Kolarevic identifizierte in seinem Vortrag „Architectures of Change“ die Kategorie der Zeit als infraordinäres Element im architektonischen Entwurf adaptiver Architektur. Während er die Technologien dieser responsiven Strukturen und interaktiven Systeme dem „Extraordinären“ zuschreibt, den zentralen Aspekt der Transformation (change) im „Ordinären“ verortet, definiert er die Zeit als „infraordinäres“ Element, das diesen Diskurs der Veränderung grundlegend steuert. Illustriert wurde diese These anhand von Beispielen aus seinem Buch Building Dynamics: Exploring Architecture of Change (2015, gemeinsam mit Vera Parlac).
Den Abschluss machte die Literaturwissenschaftlerin Johanna-Charlotte Horst, die Einblicke in das literarische Werk George Perecs gewährte und dabei insbesondere auf Interferenzen von Literatur und Architektur hinwies. Nicht nur widmete sich Perec wiederholt der Beschreibung alltäglicher Räume, Straßen und Plätze, umgekehrt lässt sich in seinen Romanen immer wieder eine architektonisch-räumliche Struktur ausmachen. Die Architektur taucht bei ihm mithin als Gegenstand wie auch als literarische Methode auf.

Moderiert wurde die Veranstaltung von Petra Eckhard (GAM.Labor) und Daniel Gethmann (akk). Die Diskussion wird in Form einer Publikation, der 20. Ausgabe des GAM - Graz Architecture Magazine weitergeführt, für die Matthias Castorph und Julian Müller (Institut für Entwerfen im Bestand und Denkmalpflege) als Guest Editors verantwortlich sein werden. Abstracts zum Call for Contributions können bis zum 21. Mai 2023 an gamnoSpam@tugraz.at eingereicht werden.

Text: Petra Eckhard und Julian Müller

© Katarina Lovrić/GAM.Lab, TU Graz