Die Entwicklung der Physik zum Grundfach


Das Vorstadium

Das "Joanneum", aus dem die Technische Universität hervorgegangen ist, hatte seinen Ursprung in umfangreichen Sammlungen von Objekten aus verschiedenen Gebieten wie Naturgeschichte, Chemie, Ökonomie und Technologie, die Erzherzog Johann zusammen mit einer Bibliothek dem Land Steiermark im Jahre 1811 schenkte. Sie sind zum Teil noch heute im Universalmuseum Joanneum im Leslie–Hof, in der Raubergasse 10, untergebracht. Gleichzeitig schuf er die Basis für eine Finanzierung von Lehrkräften, die dort unter Verwendung von Objekten dieser Sammlungen "zur Hebung der Landeswohlfahrt" Vorträge halten sollten. Es sollte interessierten Kreisen der Bevölkerung die Möglichkeit geben werden, die für einen wirtschaftlichen Fortschritt des Landes dringend notwendigen naturwissenschaftlichen und technologischen Kenntnisse zu erwerben. Ein Teil dieses Unterrichts hatte anfangs den Charakter einer Volkshochschule. Im Hinblick auf die Förderung von Landwirtschaft und Bergbau waren zunächst die Fächer Botanik, Mineralogie und Chemie Hauptschwerpunkte der Lehre. Nebenfächer waren Astronomie und Technologie. Bezüglich der Physik wurde auf Lehrveranstaltungen der einschlägigen Lehrkanzel am damaligen Lyceum (in Graz gab es seit Josef II. zunächst keine (Voll)universität mehr) zurückgegriffen, wie es überhaupt lange Zeit komplementäre Verknüpfungen zwischen Lehrveranstaltungen des Lyceums und des Joanneums gab. So befanden sich unter den Hörern am Joanneum auch Studenten des Lyzeums. Bis lange Zeit nachdem dieses wieder zur Universität geworden war (1827), gab es dort keine Lehrkanzel für Naturgeschichte. Erzherzog Johann, der bis zu seinem Tod im Jahr 1859 noch stets einen starken Einfluss auf die Weiterentwicklung der Lehranstalt am Joanneum nahm, regte schon sehr bald an, zusätzliche Fächer wie Eisenwesen und Forstwesen aber vor allem auch Mathematik und Physik in den Unterrichtsstoff aufzunehmen, weil die beiden letzteren Fächer am Lyceum in lateinischer Sprache und seiner Meinung nach auch "nach veralteten Grundsätzen" vorgetragen wurden.
Physik als eigenständiges Lehrfach (wie es dies am Polytechnikum in Wien und dem in Prag schon gab) wird im Lehrplan des Joanneums erstmals im Jahre 1834 genannt, als eine Lehrkanzel für Chemie und Physik gegründet und mit Anton Schrötter von Kristelli besetzt wurde (1833-1843). Er unterrichtete Experimentalphysik im Rahmen eines Chemiestudiums und hatte auch bereits ein eigenes physikalisches Kabinett.

Die Gründung einer Lehrkanzel für Physik

Eine Trennung von Chemie und Physik in zwei voneinander unabhängigen Lehrkanzeln fand im Jahre 1845 statt. Allerdings kam es bei der Physik-Lehrkanzel zunächst nur zu Supplierungen durch Assistenten anderer Lehranstalten oder Gymnasialprofessoren. Hervorgehoben findet man hier: Heinrich Demel (1845-1847), Franz Pless (1847-1851) und Adalbert von Waltenhofen (1851-1853). Letzterer ist in der Physik allgemein bekannt durch das nach ihm benannte Pendel, einem Demonstrationsgerät für das Prinzip der elektrischen Wirbelstrombremse. Er war später Ordinarius für Physik an der Universität Innsbruck und ab 1883 Ordinarius für Elektrotechnik an der Technischen Hochschule in Wien. Der erste nach einem Auswahlverfahren auf eine "Lehrkanzel für Experimental- und Technische Physik" berufene Professor war Jakob Pöschl (1855-1887). Er hatte in Wien am Polytechnikum und an der Universität studiert und war anschließend Lehrer an Oberrealschulen in Wien und in Brünn. Als er nach Graz kam, war er 27 Jahre alt. In seine lange Amtszeit fallen zwei wesentliche Ereignisse für die technische Lehranstalt: Die Umwandlung in eine "Landschaftliche Technische Hochschule am Joanneum zu Gratz" (1865) und die Übernahme dieser durch den Staat als "k.k. Technische Hochschule in Graz" (1874). Pöschl bestritt den physikalischen Unterricht bereits mit erheblichem experimentellem Aufwand. Nicola Tesla, der als Student an die Technische Hochschule Graz mit dem Ziel kam, Lehrer für Mathematik und Physik zu werden, zählte zu den Hörern Pöschls und hielt sich gerne in dessen Laboratorium auf. Seine grundlegende Idee zur Verwendung eines Drehfeldes für einen Elektromotor ohne Kommutator und Bürsten hatte er offensichtlich dort erhalten und mit Pöschl diskutiert. Er schreibt in einem telegraphischen Dank für die Zuerkennung eines Ehrendoktorats an der Technischen Hochschule Graz (1937) u.a.: "..... Pöschl, in dessen meisterhaft ausgeführten Experimenten ich große Anregung und fruchtvolle Kenntnis fand".
Das Jahr 1888 war für die Physik an der Technischen Hochschule Graz von einschneidender Bedeutung. Die Einrichtungen der Lehrkanzel übersiedelten in den soeben fertiggestellten "Neubau" in der Rechbauerstraße. Damals erhielt diese Lehrkanzel auch eine ganze Reihe neuer Geräte. Im selben Jahr wurde Albert von Ettingshausen auf die Lehrkanzel berufen. Er war davor Assistent und dann ao. Professor an der Karl-Franzens-Universität und gehörte zu dem engeren Kreis der Mitarbeiter Ludwig Boltzmanns, zu denen zeitweise auch Svante Arrhenius und Walter Nernst, der spätere Nobelpreisträger, zählten. Ettingshausen entdeckte damals, zum Teil in Zusammenarbeit mit Nernst, einige thermisch-galvanomagnetische Effekte, von denen einer nach ihm benannt ist.

An der Technischen Hochschule Graz wurde er mit einem Problem konfrontiert, das im Grunde genommen bis heute für alle Vortragenden der Grundvorlesungen für Physik besteht: die große Lehrbelastung. Damals und bis nicht vor allzu langer Zeit mussten nahezu alle Hörer der Technischen Hochschule eine Prüfung aus elementarer Physik ablegen. Bei Ettingshausen kam noch besonders erschwerend hinzu, dass er bis zu seiner Emeritierung (1920) zusätzlich zur Physik auch noch die Elektrotechnik zu vertreten hatte. Die Lehrkanzel hieß dann auch "Lehrkanzel für Physik und Elektrotechnik". Eine eigene Lehrkanzel für Elektrotechnik, wie eine beispielsweise an der Technischen Hochschule Wien seit 1883 schon bestand und ab 1903 an allen 6 anderen Technischen Hochschulen Österreichs eingerichtet waren (an der Technischen Hochschule Wien und der deutschen Technischen Hochschule in Brünn waren es dann jeweils sogar schon zwei), schien damals in Graz vor allem wegen Raummangels im neuen Gebäude in der Rechbauerstraße nicht realisierbar. Ein geplanter Erweiterungsbau in der Mandellstraße kam wegen des 1. Weltkriegs nicht zu Stande, worauf später in einem eigenen Abschnitt noch näher eingegangen wird.
Ettingshausen hielt neben seinen Vorlesungen aus Physik und Elektrotechnik ein umfangreiches Praktikum aus Elektrotechnik ab, anfangs als Freifach später als Pflichtfach für Maschinenbaustudenten. So waren auch seine Assistenten viele Jahre lang ausnahmslos absolvierte Maschinenbauingenieure. Es ist daher nicht verwunderlich, dass an der Lehrkanzel nur mehr wenig physikalische Grundlagenforschung betrieben wurde sondern fast ausschließlich Probleme des Elektromaschinenbaus im Vordergrund standen. Einige seiner damaligen Assistenten sind später international namhafte Konstrukteure für Elektromaschinenbau bzw. Hochschulprofessoren dieses Fachs geworden. Lediglich einer seiner Assistenten beschäftigte sich mit Nachrichtentechnik: Otto Nussbaumer, dem 1904 nachweislich die erste drahtlose Übertragung von Musik in den Räumen des oben genannten Elektrotechnik-Praktikums gelang.
Zur Entlastung Ettingshausens wurde 1906 eine zweite Lehrkanzel für Physik geschaffen und mit Franz Streintz besetzt. Er hielt die Physikvorlesung für die Chemiestudenten und bestritt außerdem den größten Teil des Unterrichts in physikalischer Chemie. Nach der Emeritierung Ettingshausens (1920) konnte dann auch an der Technischen Hochschule Graz eine eigene Lehrkanzel für Elektrotechnik eingerichtet werden. Nach dem Ausscheiden von Streintz (1922) wurde dessen Stelle nicht wiederbesetzt.

Intensivierung der physikalischen Forschung

Auf die Stelle Ettingshausens wurde im Jahre 1920 Karl Wilhelm Friedrich Kohlrausch berufen. (Er stellte seinem eigentlichen Vornamen "Friedrich" die anderen beiden Vornamen voran, um ihn von seinen Onkel Friedrich Kohlrausch, dem bekannten Begründer der systematischen physikalischen Messtechnik und späteren Präsidenten der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt Berlin zu unterscheiden). Er hatte an der Universität Wien studiert und kam aus der dortigen "Exner-Schule", die so viele namhafte Physiker, wie beispielsweise auch die Nobelpreisträger Hess und Schrödinger, hervorgebracht hat.
K.W.F. Kohlrausch, wie er sich schrieb, war wenig an experimentellem Unterricht interessiert. Er zeigte auch in seinen Vorlesungen kaum je ein Experiment. Dafür war er in großem Ausmaß publizistisch tätig. Er verfasste mehrere Bücher, u.a. den umfangreichen Band "Radioaktivität" im "grünen" Handbuch der Experimentalphysik. Unmittelbar nach der Entdeckung des Ramaneffekts (1928) widmete er sich sofort dieser neuen Forschungsrichtung. Ein glücklicher Zufall wollte es, dass damals an der Technischen Hochschule Graz unter Professor Reinhard Seka ein außerordentlich leistungsfähiges Institut für Organische Chemie bestand. Dort wurden gezielt unzählige Substanzen für die Ramaneffektforschung des Physikalischen Instituts synthetisiert, an denen systematische Ramaneffekt-Untersuchungen durchgeführt werden konnten. Professor Kohlrausch entwickelte dazu theoretisch eigene mechanische Modelle, mit denen es ihm gelang, bis dahin unbekannte Molekülstrukturen, wie z.B. die des Benzolrings, zu entdecken. Die Arbeiten machten das Institut in der Fachwelt weithin bekannt. Kohlrausch verfasste auch Standardwerke über den Ramaneffekt. Es wurden ihm zahlreiche Ehrungen zu Teil.
Den Kreis seiner Mitarbeiter - das Institut verfügte damals in der Regel lediglich über 2 Assistentendienstposten – konnte er durch Beschaffung von Drittmitteln, hauptsächlich der Rockefeller Foundation, erheblich erweitern, was in den 1930iger Jahren noch selten war.
Nach dem Tod von Professor Seka wurde versucht, die chemisch synthetischen Arbeiten in den Räumen des Physikalischen Instituts weiterzuführen, was nicht mehr im bisherigen Umfang gelang.
In letzten Jahren der Amtszeit Kohlrauschs traten die Ramaneffekt-Arbeiten mehr und mehr in den Hintergrund, was auch durch seine gesundheitlichen Probleme bedingt war. Mitarbeiter, die von außen kamen, brachten dann vorübergehend andere Arbeitsgebiete an das Institut: Probleme der Physikalischen Chemie und der Gasentladungsphysik, die theoretisch bearbeitet wurden. Im Jahre 1950 wurde vom Senat der Technischen Hochschule Graz aus den Mitteln einer speziellen Dotation ein Elektronenmikroskop angeschafft. Es wurde dem Physikalischen Institut zugeordnet und in dessen Räumen untergebracht. 1951 wurde daraus eine eigene Einrichtung: das Zentrum für Elektronenmikroskopie. Der außerordentlichen Tüchtigkeit des ersten Leiters dieser Einrichtung, Dr.Fritz Grasenick, der eine Zeit lang in dieser Funktion Assistent am Physikalischen Institut war, ist es vor allem zu verdanken, daß aus dieser Arbeitsgruppe schon bald eine sehr angesehene Institution wurde. Er vermochte mit großem Geschick durch Industrieaufträge den Personalstand und den Gerätepark dieser Einrichtung stetig zu vergrößern, sammelte um sich fähige Mitarbeiter und schuf mit ihnen neue Präparationsmethoden für das Elektronenmikroskop. Die Arbeitsgruppe wurde dann vom Physikalischen Institut entkoppelt und übersiedelte nach mehreren Jahren in den Neubau des heutigen "Joanneum-Research" in der Steyrergasse, ein Gebäude, das ursprünglich in erster Linie für die Unterbringung des Elektronenmikroskops geplant worden war.
Im Jahr 1953 verstarb Prof. Kohlrausch. Zwei Jahre lang wurden alle Physiklehrveranstaltungen von Professor Julius Wagner suppliert. Er war Assistent bei Prof. Kohlrausch und wurde später Ordinarius am Institut für Experimentalphysik der Karl-Franzens-Universität.
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