Die Thematik der Mehrparteienverträge bringt in der österreichischen Baubranche eine gänzlich neuartige Projektabwicklung zu Tage. Einige Aspekte der partnerschaftlichen Abwicklung sind hierzulande bereits bekannt, allerdings ist die Kombination der einzelnen Elemente ungewohnt und neu. Dieses Neuland setzt insbesondere bei Bauherrn Mut voraus, Dinge, die in anderen Ländern bereits erprobt sind, anzugreifen und umzusetzen. Hierzu ist ein gänzlich neuer und differenzierterer Zugang aller Projektbeteiligten zum Projekt notwendig. „Miteinander statt gegeneinander“ nur als Floskel zu verstehen, führt ebenso zum Scheitern des neuen Gedankengutes wie althergebrachte Verträge zu verwenden. Aus diesem Grund sollte die 11. Veranstaltung des Grazer Baubetriebs- und Baurechtsseminars 2020 die rechtlichen Grundlagen der Mehrparteienverträge aufzeigen und durch bereits abgewickelte Projekte die Anwendbarkeit dieser verdeutlichen.
Das Thema „Wahre Kooperation im Bauvertrag – Notwendigkeit oder notwendiges Übel?“ wurde durch insgesamt 7 Fachvorträge und einer Podiumsdiskussion erörtert und diskutiert.
Als Impulsvortrag gab Siegfried Wanker, Vorstandsmitglied der STRABAG SE, einen Einblick über die Wertvorstellungen des Konzerns in Hinblick auf Vertrauen und Partnerschaftlichkeit bei der Abwicklung von Projekten.
Nach einer kurzen Einführung in das Thema der Mehrparteienverträge von Detlef Heck eröffnete Stefan Leupertz den ersten Tag des Baurechtsseminars mit einem Vortrag über Integrierte Projektabwicklung. Der ehemalige Richter des Bundesgerichtshofes berichtete über seine persönlichen Erfahrungen zur Implementierung von Mehrparteienverträgen und der damit verbundenen Auflösung bilateraler Vertragsstrukturen. Besonders ging er hierbei darauf ein, welchen Stellenwert das Schlüsselwort „Partnering“ in der (Bau)Branche besitzt und wie dies national sowie international bereits umgesetzt wird.
Als zweiter Vortragender skizzierte Julius Warda, wie die Konstrukte der Mehrparteienverträge in den bestehenden deutschen Rechtsrahmen integriert werden können. Hierzu stellte er einen Vergleich mit den bestehenden Typenverträgen des BGB auf und kam zum Schluss, dass Mehrparteienverträge keinem der bekannten Vertragsmuster zugeordnet werden können.
Detlef Heck befasste sich mit den Herausforderungen, die in einem Mehrparteienvertrag auf die Vertragspartner zukommen. Ausschließlich mit einer Open-Book-Abwicklung ist es nicht getan, mehr bedarf es umfassender Definitionen der Risiken und Chancen für alle Projektbeteiligten. Nicht nur dieser Aspekt muss Anpassung finden, auch der Zugang der einzelnen Parteien zum Projekt muss sich ändern, um den Projekterfolg neu definieren zu können.
Markus Lentzler und Jens Quade berichteten in den klassischen Rollen des Auftraggebers und Auftragnehmers von einem laufenden Projekt in Hamburg, welches als erstes „richtiges“ Mehrparteienvertrag-Projekt in Deutschland gestartet wurde. Ihr Fazit zur bisherigen Abwicklung belief sich auf folgende Aussage: „Um bei komplexen Bauvorhaben echte Zusammenarbeit zum Nutzen aller Beteiligten zu realisieren, braucht es einen Kulturwandel und einen Systemwechsel, um Kollaboration und Wertschöpfungsorientierung zu fördern.“
Als Abschluss des ersten Seminartages fand zum wiederholten Male eine Podiumsdiskussion statt, in der unter der Beteiligung von Detlef Heck, Markus Lentzler, Jens Quade und Julius Warda die Erkenntnisse des ersten Seminartages diskutiert wurden.
Der zweite Seminartag wurde von Johann Herdina eröffnet, der in seinem Vortrag auf die Schwierigkeiten bei der Projektabwicklung des Gemeinschaftskraftwerks Inn näher eingegangen ist. Der Initiator des Bauprojektes legte anhand von konkreten Beispielen dar, warum der Kooperationsvertrag bzw. Allianzvertrag mit den aktuellen Auftragnehmern des Projektes auch in den vergangenen 12 Monaten schwierigste Umstände auf der Baustelle lösbar gestaltet hat.
Der letzte rechtliche Vortrag, gehalten von Lukas Andrieu, stand unter dem Thema der vergaberechtlichen Umsetzung von Kooperationsmodellen und Mehrparteienverträgen in Österreich. Er trat den Beweis aus rechtlicher Sicht an, warum auch vor dem Hintergrund des österreichischen Bundesvergabegesetzes Mehrparteienverträge (dennoch) zur Anwendung kommen können.
Abschließend schilderte Heinz Ehrbar, ehemaliger Projektleiter des Gotthard-Basistunnels, seine Erfahrungen in der partnerschaftlichen Projektabwicklung und nannte einige Erfolgsfaktoren für eine funktionierende Projektabwicklung.
Das Seminar gab einen vertieften und intensiven Einblick in eine spezielle Problemstellung der Bauwirtschaft zu dem aktuell sehr heiß diskutierten Thema der Mehrparteienverträge. Nachzulesen ist dies im Tagungsband, der über den Verlag der TU Graz bezogen werden kann.
Referent | Vortragstitel |
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Dipl.-Ing. Siegfried Wanker | Partnerschaftlichkeit: Ein Wert!? |
Prof. Stefan Leupertz | Integrierte Projektabwicklung (IPA) –Die Auflösung bilateraler Vertragsstrukturen durch Mehrparteienverträge |
Prof. Dr. Dr. h. c. Barbara Dauner-Lieb | Kooperation und Mehrparteienverträge im Vergaberecht |
Univ.-Prof. Dr.-Ing Detlef Heck | Baubetriebliche Abwicklung von Mehrparteienverträgen |
Dipl.-Ing. Markus Lentzler Dipl.-Ing. Jens Quade | Miteinander statt gegeneinander – Systemwechsel und Kulturwandel durch integrierte Projektabwicklung mit Mehrparteienverträgen |
Dipl.-Ing. Johann Herdina | Tops und Flops beim Bau des Gemeinschaftskraftwerks Inn |
Mag. Lukas Andrieu | Vergaberechtliche Umsetzung von Mehrparteienverträgen in Österreich |
Dipl.-Ing. Heinz Ehrbar | Lehren und lernen aus dem schweizerischen AlpTransit Projekt |